Lukas Bärfuss

20000 Seiten

Inszenierung: Burkhard C. Kosminski
Bühne:
Florian Etti
Kostüme: Ute Lindenberg
Dramaturgie: Julia Weinreich
Musik:
Hans Platzgumer
Licht: Björn Gerum


Deutsche Erstaufführung,
am 17. Januar 2014 im

Staatsschauspiel Dresden

Besetzung:
Dr. Gosbor/Mala/Priska/Silvia : Cathleen Baumann
Arvyl/Korn/Guido/ein Mann: Sascha Göpel
Tony: André Kaczmarczyk
Lisa: Laina Schwarz / Ines Marie Westernströer
John/Oskar/Buff/David: Torsten Ranft
Wüthrich: Anton Petzold

 

 


Pressestimmen:



Im Käfig der Erinnerung
Gelegentlich leidet man unter seinen Erinnerungen. Zumal, wenn sie einem kiloschwer auf den Kopf gefallen sind und sich folgenreich in den Hirnzellen ausgebreitet haben. Denn die aus größerer Höhe entsorgten "20 000 Seiten", so der Titel des zuweilen etwas langatmigen Stückes von Lukas Bärfuss, mit dem das Staatsschauspiel Dresden beim Heidelberger Stückemarkt gastierte, enthalten keine schöngeistige Literatur, sondern einen wissenschaftlichen Bericht über das Verhalten der Schweiz während der Zeit des Nationalsozialismus.
Und der bedauernswerte Tony hat nun als Folge des Unfalls alles exakt gespeichert, die amtlichen Verlautbarungen ebenso wie die tragischen Einzelschicksale jener jüdischen Flüchtlinge, die abgewiesen oder an das französische Vichy-Regime ausgeliefert wurden. Albträume aus der Wirklichkeit, für die Florian Etti ein beklemmend käfigartiges Bühnenbild entworfen hat.
Als Lisa, Tonys sympathische Freundin (Ines Marie Westernströer), ihn in der Psychiatrie besuchen will, muss sie zunächst die wortreiche Barriere der Ärztin Dr. Gosbor (Cathleen Baumann) überwinden, ein grotesker Härtefall, der uns auf der Klaviatur verinnerlichter Persönlichkeitsstörungen entschlossen lächerlich demonstriert, was es heißen kann, sich beruflich dauerhaft am Abgrund pathologischer Absurditäten bewegen zu müssen. Dass Tony (André Kaczmarczyk), dessen Treuherzigkeit vor allem dann unwiderstehlich wirkt, wenn er die Melancholie seiner Verzweiflungsblicke durch die Vergitterung einer desolaten Welt schickt, sein unfreiwillig erworbenes Wissen unter die Leute bringen will, versteht sich von selbst.
Doch niemand will es hören. Weder im "Bürgerradio", dessen dreiköpfige Belegschaft in der bemerkenswert dichten Inszenierung von Burkhard C. Kosminski, dem Mannheimer Schauspielintendanten, köstliche kabarettreife Szenen abliefert, noch in der den banalen Unterhaltungsterror beschwörenden Castingshow, die Torsten Ranft als umtriebiger, sich ständig selbst erhöhender Künstleragent benutzen möchte, um das "Gedächtnisgenie" Tony groß herauszubringen. Zum Schluss will der junge Mann nur noch eines: den nutzlosen historischen "Müll" in seinem Kopf wieder loswerden. Deshalb lässt er sich unter ärztlicher Kontrolle eine Kiste mit von ihm ausgewählten Schriften auf die Birne knallen.
Jetzt hat er statt Judenverfolgung und Auschwitz anderes im Kopf: Chinesisch, den Text eines italienischen Kochbuches, dazu ein bisschen Marketing sowie Schiller und Goethe. Nun könnte alles wunderschön sein. Doch leider büßt Tony bei dieser Aktion seine Identität ein. Nicht einmal Lisa erkennt er. Was beweist, dass der Unterschied von Vernunft und Wahnsinn eben nur eine Frage der Perspektive ist. […]

(Mannheimer Morgen, 05.05.2014)


Über den Wert der Erinnerung
Das Wichtigste zuerst: Es hat ihn gegeben, den wissenschaftlichen Bericht über das Verhalten der Schweiz in der Nazi-Zeit, der 2002 schwer am neutralen Selbstverständnis der Helvetier kratzte und als einseitig diffamierend schnell vom Tisch war. Im Stück des sich moralisch peu à peu auf Max Frisch zubewegenden Schweizer Autors Lukas Bärfuss fällt ein solcher Bericht dem Protagonisten Tony auf den Kopf. "20 000 Seiten" ist er titelgebend schwer und befindet sich in 25 Bänden in einem Umzugskarton, den sein Herausgeber aus Frust über das "belastende und unnütze Wissen" aus dem dritten Stock in einen Container wirft, wohin den gutmütigen Träumer Tony ein ebenfalls ausrangiertes Tonbandgerät gelockt hatte.
Pech - und vor allem buchstäblicher Zu-Fall. Die Studie ist ihm zugefallen, setzt sich Buchstabe für Buchstabe, Fall um Fall in seinem Kopf fest, am Ende wird diese ihn gar zu Fall bringen.
Auslotung der Grenzbereiche
2012 war der wortreiche, aber nicht minder brillante Stoff in der klamaukigen Zürcher Uraufführungsinszenierung Lars-Ole Walburgs zu Schanden geritten worden, nun erst hat Mannheims Schauspielchef für die Kammerspiele des Dresdner Staatsschauspiels die heftig beklatschte Deutsche Erstaufführung übernommen. Dass ein solches Stück zwei Jahre liegt, muss man wohl einer vermeintlichen Schweizspezifik mit einhergehender Unverträglichkeitsvermutung deutscher Theaterkassen zuschreiben.
Weit gefehlt. Auch wenn Fakten und Briefe von durch die Schweiz an das Vichy-Regime ausgelieferten und in deutschen Lagern getöteten Juden erschüttern - zumal in der emphatischen Diktion André Kaczmarczyks (Tony), es geht Bärfuss um weit mehr. Um den Wert der Erinnerung, deren Notwendigkeit und Schmerzhaftigkeit - Auslotung der Grenzbereiche zur Besessenheit und zerfleischenden Selbstaufgabe inklusive.
Tony landet in der von Bühnenbildner Florian Etti als vielseitig ein- und ausschließender Käfig der Erinnerung gestalteten Psychiatrie, wo sein Wissen von einer zum Philosophieren neigenden Ärztin (launig und mit gelungenen Aussteigern: Cathleen Baumann) als "posttraumatische Belastungspsychose" behandelt wird. Auch Freundin Lisa (Laina Schwarz) zeigt sich wenig begeistert, hat sie dem liebenswerten Taugenichts doch endlich eine Stellung besorgen können. Doch Tony will den Beweis antreten, dass es die mittlerweile verbrannten Bücher wirklich gibt, er somit nicht wahnsinnig ist.
Fündig wird er beim Wüthrich, einem durch die Zeugnisse zum mahnenden Einsiedler gewordenen Journalisten, dessen traurige Geschichten niemand mehr lesen wollte. In einer Höhle wahrt er das Wissen mit den letzten Bänden als "Altar der Schande". Märchenhaft mutet diese Szene an, vor allem weil Kosminskis Schachzug, den Wissensbewahrer mit einem Buben zu besetzen, voll aufgeht. Anton Petzold legt mit der Darstellung des Kindgreises frühes Zeugnis einer außergewöhnlichen Begabung ab. Andere müssen dafür später in einer Castingshow auftreten, was auch Tony droht, jetzt, da sein auswendig aus ihm hervorsprudelndes Wissen dank der Wüthrich-Bände belegbar ist.
Doch bevor er bei "Das Megatalent" als Memorier-Freak nach Überwindung eines Elvis-Darstellers und eines sprechenden Seehunds einer singenden Busfahrerin unterliegt, versucht er seine, mittlerweile längst eigene Sache noch bei "seriösen" Medien unterzubringen. Weder im linksbewegten Bürgerradio noch im bunten Showformat, wo (vor allem) Torsten Ranft, Sascha Göpel und Cathleen Baumann multipel überzeugen, kann sich Tony den Oberflächen-Gegebenheiten unterordnen - und versagt.
Burkhard C. Kosminski unterliegt nicht der Verlockung seines Vorgängers, hier im schrillen Trash zu baden, sondern bremst das Geschehen auf ein gerüttelt Maß dessen, was der Text trotz langer monologischer (und vernünftig gekürzter) Einschübe reichhaltig bietet: Humor!
Auch die Schlusspointe enthält der Regisseur nicht vor: Zurück in der Nervenklinik - wohin sonst? - will man Versuchskaninchen Tony das Wissen "unter Originalbedingungen" austauschen und stellt 20 000 Seiten nutzbringenden Wissens für den marktgerechten Idealmenschen zusammen: BWL, Chinesisch, IT, Marketing plus soziokultureller Prise: Goethe, Schiller, Filmlexikon und ein italienisches Kochbuch. Eine glänzende, gewinnbringende Zukunft mit Lisa steht an. Doch die erkennt er nicht mehr. Ein bisschen Schwund ist eben immer?...

(Mannheimer Morgen, 20.01.2014)

 

„Lukas Bärfuss` bissiges Werk steigert die großen Fragen von der Relevanz der Geschichte für unsere gegenwärtige Identität, oder der Rolle der Wissenschaften als Weltdeutungsinstrumente zur Sinnfrage des Seins. „Wer vergisst, ist verloren“ heißt dabei der Refrain des Stücks. Burkhard C. Kosminskis schlichte Inszenierung gibt dem komplexen Drama genügend Raum zur Entfaltung. Außerdem bilden die klamaukigen Elemente, welche die Schwere des Stoffs immer wieder durchbrechen, eine willkommene Entlastung. Getragen wird das Stück vom formidablen Ensemble, allen voran Cathleen Baumann als wahnsinnige Psychiaterin Dr. Gosbor. Am Ende bleibt die Frage, wie man überhaupt einen Platz  in dieser „Welt der Unschuldigen, in der keiner verletzt und alle schreien“ finden kann.“
(Dresdner, Februar 2014)  


„Die Uraufführung fand vor zwei Jahren in Zürich statt, nun die deutsche Erstaufführung am Kleinen Haus. Regie führt hier Burkhard C. Kosminski, der Dresden bislang „Des Teufels General“, „Die Möwe“ und „Race“ bescherte und sich als Schauspielintendant am Mannheimer Nationaltheater immer wieder um neue Stücke und Stoffe kümmert sowie eigene Autoren hegt wie pflegt. In einigen Szenen gibt er zwar den wilden Ausbrüchen seiner drei Nebendarsteller zu viel Raum, aber er behält die Zügel der Episodengeschichte dennoch immer in der Hand, so dass die eigentlich vorhersehbare Pointe dennoch ins Mark und auch nachhaltig ins Hirn trifft.“
(SAX, Februar 2014)  


„Viel Wissen hilft nicht immer, vor allem, wenn es um unbequeme Wahrheiten geht. Davon erzählt absurd-komisch, fesselnd und unterhaltsam das Stück „20 000 Seiten“ des Schweizer Dramatikers Lukas Bärfuss. Die deutschsprachige Erstaufführung in der Regie von Burkhard C. Kosminski war im Kleinen Haus zu erleben.“
(Dresdner Morgenpost, 22.01.2014)

„Die Inszenierung changiert zwischen Ernst und Komik. Das Ensemble (neben André Kaczmarczyk Cathleen Baumann, Torsten Ranft, Sascha Göpel und Laina Schwarz) wechselt gekonnt die Rollen, Spiel- und Tonarten.“
(Meißner Tageblatt, 30.01.2014)

Unterhaltsame deutsche Erstaufführung
„[…]Das 2012 uraufgeführte Stück, das in Dresden seine deutsche Erstaufführung erlebt, umkreist Fragen wie: Warum vergisst der Mensch Unbequemes? Wie geht das kollektive Gedächtnis mit Unbehaglichem um? Es fallen Sätze wie: „Sie sagten: Geschichten, das ist es, was die Menschen brauchen, um nicht zu vergessen. – Vielleicht kann ich die Menschen erinnern, ohne dass sie sich schlecht fühlen.“

Und so wird herzerfrischen klamaukt. Für Spaß sorgen Häschen- oder Elvis-Kostüme (Ute Lindenberg). Torsten Ranft gibt herrlich komisch den Alt-68er. Cathleen Baumann erntet Szenenapplaus für ihren Sprechdurchfall aus Comic-, Werbespot- und Lehrbuchversatzstücken. Welches Wissen ist unnütz, welches nützlich? […] Das Premierenpublikum spendete reichlich Beifall.“(DAWO! – Dresden am Wochenende, 1./2. Februar 2014)  

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