Sharr White

Der andere Ort

Inszenierung: Burkhard C. Kosminski
Bühne: Florian Etti
Kostüme: Janine Werthmann
Musik:
Hans Platzgumer
Video Design: William Cusick
Licht: Nicole Berry
Dramaturgie:
Katharina Blumenkamp

Deutschsprachige Erstaufführung
(Deutsch von Ursula Grützmacher-Tabori),
Premiere am 27. 10. 2011
Nationaltheater Mannheim

Besetzung:
Juliana : Ragna Pitoll
Ian : Thomas Meinhardt
Die Frau : Sabine Fürst
Der Mann : Sven Prietz

 


Pressestimmen:

Wasser des Vergessens

Neue Stücke mit spannender Handlung und realistischen Figuren kommen derzeit fast nur aus Amerika. Allein mit den US-Autoren, die in den vergangenen drei, vier Jahren in den Theatern der Region ihren Deutschland-Einstand erlebten, kann man ganze Spielzeiten bestreiten. Mannheim legte 2008 mit dem aus Oklahoma stammenden Tracey Letts und dessen Familiensaga „August: Osage County“ vor und zog bald dessen Erstling „Verwanzt“ nach. Mainz wiederum brachte den Chicagoer Dramatiker Bruce Norris mit der schwarzen Komödie „Reiz und Schmerz“ ins Gespräch und blieb danach mit dessen grandiosem Vorstadt-Panorama „Clybourne-Park“ am Ball.
Jetzt ist wieder Mannheim dran. Sharr White heißt der Mann, dem dort derzeit das Interesse gilt. Der junge Autor stammt aus Kalifornien, und das von dem Mannheimer Schauspielchef Burkhard C. Kosminski erkorene Stück „Der andere Ort“ ist sein jüngstes. Es erweist sich abermals als Volltreffer.
In „Der andere Ort“ erzählt White die Geschichte einer Mitfünfzigerin, der Medizinerin Juliana, die auf Werbemission für ein Medikament plötzlich eine „Episode“ hat. Sie entdeckt bei einem Vortrag im Publikum eine Frau im gelben Bikini, die beim zweiten Hinsehen jedoch spurlos verschwunden ist. Gehirntumor! denkt Juliana. Doch Julianas Mann, ein Onkologe, traut der Eigendiagnose seiner Frau nicht – und die Untersuchung einer befreundeten Ärztin ergibt in der Tat etwas womöglich noch Bedrängenderes: Juliana befindet sich im Frühstadium einer speziellen Form von Demenz. Sechs Monate vergehen. Und ein Treffen in einem Haus, das sich lange im Familienbesitz befunden hatte und das als der „andere Ort“ durch die Dialoge geistert, offenbart die ernüchternde Wahrheit. Nichts von dem, was Juliana zuletzt als Gewissheit durch ihr Leben begleitet hatte, existiert wirklich: die Tochter Laurel samt Gatte Richard sind längst verschwunden, wahrscheinlich tot; die Beziehung zu Ehemann Ian ist zerrüttet; und das befremdliche Mädchen im gelben Bikini, das Juliana bei ihrem Vortrag gestört hatte, war nichts Anderes als ein Spiegelbild ihrer selbst.

Ein starkes Stück, aus Monolog-Passage, Dialog-Rückblenden und kleinen Verwirrspielen kühn, aber schlüssig zusammengebaut. In Mannheim ist es in ein aseptisch schlichtes Kliniksbühnenbild gestellt, das sich im zweiten Teil auf eine verregnete Landschaft mit wasserumspültem Felsbrocken öffnet: die Wasser des Vergessens!
Zum purem Vergnügen aber wird die Aufführung durch die Schauspieler – allen voraus Ragna Pitoll als Juliana. Wie die mit schnarrender Süffisanz die kühle Managerin herauskehrt und selbst im Elend die Fassung allenfalls für Sekunden verliert, das ist ebenso betörend wie bewegend. Und Thomas Meinhardt als ihr Ehemann Ian, Sabine Fürst als Tochter Laurel und Sven Prietz als deren Angetrauter Richard sorgen für ein grundsolides Umfeld. Anderthalb Stunden nur – doch sie beschäftigen den Zuschauer noch tagelang.

(Allgemeine Zeitung Mainz)

 

Das Geheimnis trägt Bikini

Eine Frau steht im Scheinwerferkegel. Ihr Vortrag ist gewitzt, gediegen, selbstironisch. Sie trägt ein elegantes Kostüm und sieht überhaupt fantastisch aus. Sie berichtet von einer Konferenz auf den Jungferninseln, bei der sie einer Ärzteschar ein hochentwickeltes Medikament vorstellen will. Seltsam nur die akribischen Details. Ist es wichtig, dass es ein Freitag ist, sie genau 52 Jahre alt, und dass die Außentemperatur 21 Grad Celsius beträgt? Allmählich wird dem Zuschauer klar, dass hier etwas nicht stimmt. Wie wäre es sonst möglich, dass eine gestandene Frau wie Juliana Smithington, gespielt von Ragna Pitoll, sich so aus der Fassung bringen lässt von einem jungen Ding im gelben Bikini, das sich unter die Ärzte gemischt hat?
Das ist spannend, richtig spannend und das bleibt so bis zum Schluss, wenn das Geheimnis des Mädchens im gelben Bikini bei der deutschen Erstaufführung von Sharr Whites Stück „Der Andere Ort“ im Nationaltheater Mannheim gelüftet wird. Dafür sorgt vor allem Ragna Pitoll, die ergreifend schön spielt. Ihre Juliana glaubt zunächst, ihre „Episode“ (die Halluzination des Mädchens im gelben Bikini und ihr darauf folgender Zusammenbruch) sei auf einen Hirntumor zurückzuführen, doch die Reaktionen ihres Ehemannes Ian (Thomas Meinhardt) und ihrer Neurologin Cindy Teller (Sabine Fürst) sprechen eine andere Sprache. Pitoll monologisiert vor dem Publikum, kanzelt intelligent die Neurologin ab und kabbelt mit dem Ehemann, dabei schält sie beiläufig, aber mit großer Präzision Julianas emotionale Facetten heraus, den Stolz, die Selbstsicherheit, Angst, Liebe, Zweifel und tiefe ungestillte Sehnsucht.
Dass Ragna Pitoll das so machen kann, liegt auch am Stück des amerikanischen Dramatikers White, das im März 2011 in New York uraufgeführt wurde. Es schildert die Geschichte von Julianas Demenzerkrankung, aber auch die ihres Traumas, dem unverwundenen Verlust der geliebten Tochter. White erzählt aus der Sicht der Erkrankten, die zunehmend hin und her springt zwischen Funktionieren, Halluzinieren und völliger Orientierungslosigkeit. Diesen Prozess bildet das monumentale und doch minimalistisch gehaltene Bühnenbild von Florian Etti ab. Eine fast sterile, nicht sehr tiefe Bühne mit sechs nüchternen Holzbänken und zwei Fenstern in großer Höhe, die auch als Videoleinwände dienen. Doch im Laufe des Abends klappen die Kulissen nach hinten weg und geben die Sicht frei auf einen tiefen schwarzen Raum.
Das Bild charakterisiert den Zauber von Burkhard C. Kosminskis Inszenierung trefflich. Seine Regie ist zwar dezent, aber unverkennbar: Ist in Sharr Whites Stück der „andere Ort“ noch ein Ferienhaus, das für Vergangenheit und Erinnerung steht, hat Kosminski diesen Ort erweitert um eine geheimnisvolle, unendliche Landschaft – die der menschlichen Seele. Auch der Verlust des Verstandes kann deren Tiefe und Schönheit nichts anhaben.

(Darmstädter Echo)

 

Weg in die Dunkelheit

Eine an Demenz erkrankte Frau hat der US-amerikanische Dramatiker Sharr White in den Mittelpunkt seines Theaterstücks „Der andere Ort” gestellt. Der Mannheimer Schauspieldirektor Burkhard C. Kosminski hat das Stück in New York entdeckt und nun als deutschsprachige Erstaufführung ans Nationaltheater geholt. Stück und Inszenierung sind bei der Premiere vom Publikum zu Recht gefeiert worden.

So behutsam und liebevoll, wie Sharr White diese Geschichte vor uns ausbreitet, hat auch Burkhard C. Kosminski sie auf die Bühne gebracht. Florian Etti hat für den ersten Teil einen hohen, fast leeren Bühnenraum gebaut. Es gibt nur ein halbes Dutzend Sitzbänke und zwei Fenster hoch oben für die Diaprojektionen von Julianas Vortrag. Die schnellen Szenenwechsel sind mit unterschiedlichen Lichteinstellungen problemlos nachvollziehbar. Im zweiten Teil öffnet sich der Raum zu einer nachtschwarzen Leere, mittendrin ein riesiger Felsen im Dauerregen. Es ist eine Anspielung auf die Küste von Cape Cod, aber auch ein poetisches Zeichen, ein letztes Erinnerungsbild einer sich in undurchdringlicher Dunkelheit auflösenden Vergangenheit. Am Ende flackern auf dem Felsen die Videobilder eines kleinen Mädchens in einem gelben Bikini, Julianas Tochter Laurel am Strand in unbeschwerten Kindertagen.
Ansonsten lässt Kosminski seine Schauspieler agieren: präzise, ernsthaft, auf beiläufige Weise eindringlich, manchmal auch komisch. Ragna Pitoll als Juliana spielt eine Frau, die mit der Erinnerung ihre Identität und damit ihr bisheriges Leben verliert. Wir lernen sie kennen als toughe Pharma-Tussi, auf hohen Hacken und im engen Businesskostüm, die mit scharfem Verstand und kaltem Sarkasmus ihren Terminkalender und ihre Mitmenschen im Griff hat. Dann zerbröselt diese Fassade immer mehr, mit ihren Zweifeln an sich selbst werden ihre Bosheitsattacken häufiger. Das Leben hat diese Frau hart und zynisch gemacht, jetzt sind das ihre Waffen gegen die Krankheit. Dem Leiden ihres Mannes gönnt sie kein Mitgefühl, sich selbst nur kurze Augenblick der Schwäche.
Thomas Meinhardt als Ian ist nicht nur der verzweifelt-besorgte Ehepartner, sondern auch ein Liebender, dem das Objekt seiner Liebe genommen wird. Sabine Fürst und Sven Prietz übernehmen die übrigen Rollen, knappe Skizzen nur, aber wunderbar gelungen wie der ganze Theaterabend.

(Die Rheinpfalz)

 

Erinnerungen schillern wie das Meer

Ragna Pitoll lässt tief in die Seele einer von der Verzweiflung zerfressenen Frau blicken, deren einzige Glücksmomente weit in der Vergangenheit liegen – am titelgebenden anderen Ort. Gemeint ist damit das Strandhaus Julianas auf Cape Cod. Mit ihm assoziiert sie die vergangene Familienidylle. Diesem Strom der Assoziationen und vagen Gefühle setzt Kosminski seine Akteure – neben Pitoll spielen noch Thomas Meinhardt, Sabine Fürst und Sven Prietz – geschickt aus. Florian Ettis karge Wartesaal-Architektur ist Vortragssaal (für die einst erfolgreiche Forscherin) und Krankenhaus zugleich. Am Ende öffnet sich das Bühnenbild zum Sehnsuchtsort an der Küste, wo die verschwommenen Erinnerungen schillern wie das Meer.

(Rhein-Neckar-Zeitung)

 

Scheinbares Glück führt in seelische Abgründe

Sie ist außergewöhnlich klug, aber alles, was sie weiß, ist nicht real. Langsam erfasst die Demenz, der Zerfall, die blitzgescheite Ärztin Juliana Smithton. US-Autor Sharr White beschreibt die Geschichte in seinem preisgekrönten Gegenwartsstück „Der andere Ort“. Regisseur Burkhard Kosminski bringt es erstmals in Europa auf die Bühne - im Mannheimer Nationaltheater gab es für die Premiere am Donnerstag viel Applaus.

(DPA)