Arthur Miller
Ein Blick von der Brücke

Peter Michalzik (Mitarbeit Lea Gerschwitz)
Mannheim Arrival


Inszenierung: Burkhard C. Kosminski
Bühne:
Florian Etti
Kostüme: Ute Lindenberg
Musik:
Hans Platzgumer
Musikalische Leitung: Markus Sprengler
Video: Nils Blumenkamp
Licht: Nicole Berry
Dramaturgie: Lea Gerschwitz/Tilman Neuffer


Premiere
am 03. Oktober 2015

Schauspielhaus, Nationaltheater Mannheim
(in Zusammenarbeit mit der Mannheimer Bürgerbühne)

Besetzung:
Alfieri: Sven Prietz
Eddie: Klaus Rodewald
Catherine: Anne-Marie Lux
Beatrice: Anke Schubert
Marco: Jacques Malan
Rodolpho: Alexey Ekimov
Marcos Frau: Shima Hamzehiyan
Band: Johnson Elemaru / A. M. Gaio /
Firas Hassan / Ali Jabor / Hans Platzgumer

Gäste:
Ulrike Folkerts / Peter Rühring / André Jung /
Walter Sittler /Alexander Khuon / u.a.

Ein Blick von der Brücke mit:
Ramin Akbari, Lamin Beyai, Mehretab Birikti, Ibrahim Camara, Thierno Daillo, Bahar Feratova, Azeb Tsegay Gebreselassi,
Werede Mogos Gesesew, Michele Habtom, Solomon Haile,
Shima Hamzehiyan, Nazeri Mohammad Hassan, Gabriel Hdraty, Modou Jarju, Marina Karoyan, Nazibrola Karoyan,
Firehiwot Girma Kirstos, Semere Negasi Legese, Senay Mehari, Kidane Sium, Nodar Teliev, Alexander Tesfamariom,
Dawit Weldu, Abel Yebio

Mannheim Arrival mit:
Ali Mohammed Abdirahman, Ramin Akbari, Momodou Ceesay, Shagufta Habib, Fariha Hussen, Muna Hussen, Modou Jarju,
Ghafar Nurzaei, Poulina Fuaad Sheba, Linda Lendita Sylejmani

 

 


Pressestimmen :

Ohne Tabletten kann sie nicht schlafen
Ein Flüchtlings-Doppelabend in Mannheim mit authentischen Zeugnissen und Arthur Millers "Blick von der Brücke".

Erstaunlich eigentlich, dass Arthur Millers 1955 uraufgeführtes Drama „Ein Blick von der Brücke“ in diesen Monaten nicht rauf und runter und wieder rauf gespielt wird: Es erzählt Migranten-Geschichten und streift auch noch die Themen Homophobie und Sexismus (wie schlecht wird die Ehefrau behandelt!). Ein „integrierter“ Einwanderer, Eddie, nimmt zunächst bereitwillig arme Verwandte aus Sizilien auf, Marco und den jungen Rodol-pho; aber als Eddies Nichte Catherine und Rodolpho ein Paar werden, ist Schluss mit der Hilfsbereitschaft. Der will doch nur deinen Pass, der ist doch schwul (er singt und tanzt gern), lauten die Vorwürfe, die natürlich bei der jungen Frau keinen Eindruck hinterlassen. Eddie verrät die „Illegalen“ in seiner Wohnung an die Behörden. Als Marco aus der Haft kommt, tötet dieser ihn.
Auf schnörkellose 70 Minuten hat am Mannheimer Nationaltheater Regisseur Burkhard C. Kosminski „Ein Blick von der Brücke“ gekürzt, denn es ist nur der erste Teil eines Doppelabends. Nach der Pause lesen die Darsteller Texte, die der Journalist und ehemalige FR-Redakteur Peter Michalzik aus Gesprächen mit in Mannheim lebenden Migranten destilliert hat. Es handelt sich um prägnante, berührende Monologe aus authentischem Material. Es ist eine Art von Zeitzeugen-Theater, wie es die Gruppe Rimini Protokoll pflegt; allerdings sitzt der Migrant, um den es just geht, hier meist still auf der Bühne oder sogar im Publikum.
Blinde Fenster, abgerissene Tapeten, ein Kasten Bier als einzige Sitzgelegenheit: Bühnenbildner Florian Etti lässt Eddies Wohnung als Baustelle erscheinen: Der eine Migrant, der es doch angeblich geschafft hat, ist immer noch seltsam unbehaust. Vielleicht pocht er darum so oft auf „Respekt“. Und tritt nach unten, auf die, die nach ihm kamen: „So ein gottverdammter Flüchtling“.

Die Dinge entwickeln sich schnell. Die Cousins kommen an, Cathy (Anne-Marie Lux) findet Rodolpho (Alexey Ekimov) gleich nett, Eddie (Klaus Rodewald) – ein gewisses Interesse an seiner Nichte wird mehr als nur angedeutet –, wird sofort eifersüchtig, es fällt der schreckliche Satz: „Von Rechts wegen gehörst du zurück ins Wasser.“ Anwalt Alfieri (Sven Prietz) nimmt Marco (Jacques Malan) das Versprechen ab, Eddie nichts zu tun – es hilft nichts: Marcos elende, kranke Familie blieb ohne Geld aus Amerika, er denkt nur noch an Rache.
Auch in den Flucht- und Leidensgeschichten der Migranten geht es um Familienbande. Shagufta Habibs zwei Kinder sind noch bei der Schwester in Pakistan, sie hofft Monat um Monat, sie nachholen zu dürfen. Linda Lendita Sylejmani aus dem Kosovo ist mit ihren Kindern hier: „Natürlich nehme ich Tabletten. Ohne Tabletten kann ich nicht schlafen.“ Wie Shagufta Habib wurde sie von ihrem Mann misshandelt. Ali Mohammed Abdirahman aus Somalia ist mit Frau und Kindern vereint und hat eine Aufenthaltserlaubnis, ein kleines Happy End. Modou Jarju aus Gambia ist irgendwann im Laufe seines Asylverfahrens durchs Raster gefallen: „Sie haben mich vergessen.“

Eine kleine Band – soll man sie Flüchtlingsband nennen? – sorgt auch schon im Miller-Stück für dezente Hintergrund- und Zwischenmusiken. Eine familiär-freundliche Atmosphäre entsteht. Ohnehin wird der zweite Teil nüchtern präsentiert: Die Geschichten brauchen keine inszenatorische Aufbauschung, sie sprechen tatsächlich für sich. Gleich nach der Pause haben die Schauspieler ihre Herkunft offen gelegt, Promis wie Ulrike Folkerts (bei der Premiere), Peter Rühring (am zweiten Abend), Walter Sittler, Ulrich Matthes unterstützen das Projekt durch Gastauftritte.
Es ist ein unspektakulärer, aber dichter Abend. Seine Kraft kommt aus der Tatsache, dass er sagt, wie’s ist, Flüchtling zu sein.
(Frankfurter Rundschau, 09.10.2015)

 

Jede Angst ist international
Dass Flüchtlinge zwar Flüchtlinge, aber vor allem Persönlichkeiten mit je eigenen Geschichten sind, hat man in den vergangenen Wochen schon oft gehört. Dass es trotzdem nie falsch ist, auch andere vertraut klingende Befunde zu wiederholen – etwa den des demographischen Wandels, der Einwanderung nicht nur akzeptabel, sondern notwendig mache –, durfte man jetzt in Mannheim erleben, wo das Nationaltheater eine ganze „lange Nacht der Begegnung“ dazu nutzte, um bei seinem Publikum offene Türen einzurennen. Warum sollte sich auch jemand eine Karte für einen Abend zur Flüchtlingskrise kaufen, wenn er diese Menschen im Grunde seines Herzens nicht ohnehin willkommen hieße? Und überhaupt: Haben nicht die vergangenen Wochen gezeigt, dass dieses Land in puncto Gastfreundschaft eigentlich keine Nachhilfe mehr braucht?
In manchen Momenten erinnerte die Mannheimer Nacht denn auch an einen alten VW-Bus, der mit guten Absichten beladen auf der Autobahn gen Süden fuhr, aber von der Aktualität dann doch überholt wurde – und zwar sowohl links als auch rechts. Denn der zuweilen ein wenig zu explizit wirkenden Appelle an Menschlichkeit und Moral, die sowohl die kurze Einführung des Migrationsforschers Klaus J. Bade als auch das von Burkhard C. Kosminski inszenierte Arthur-Miller-Stück „Ein Blick von der Brücke“ prägten, hätte es gar nicht bedurft. Interessanter war beides vielmehr dort, wo es auf den dritten Teil des Abends vorbereitete. So wusste Bade beispielsweise zu berichten, dass die Integration in Deutschland besser sei als ihr Ruf im Land. Man dürfe sich mit der „German Kulturangst“ nur nicht „demo-ökonomisch selbst im Wege stehen“. Um genau diese Kulturangst ging es wiederum auch in dem „Blick von der Brücke“, in dem es vor allem Klaus Rodewald gelang, den von ihm dargestellten Eddie als einen Mann zu zeigen, der einem in seinem Unvermögen, über den eigenen Tellerrand zu blicken, beinahe leid tun durfte. Eddie war selbst einst als Einwanderer nach New York gekommen. Nun verrät er zwei andere Immigranten an die Polizei, gleichwohl aus rein privaten Gründen. Ängste haben eben keine Nationalität. Sie sind privat und also immer dann gut zu relativieren, wenn man ihnen die Ängste anderer gegenüberstellt.

So geschah es in der folgenden Uraufführung von „Mannheim Arrival“, einer Art Performance Lecture, die Peter Michalzik mit Lea Gerschwitz verfasst hat. Je einer der Schauspieler, die man nun ja schon kannte, trat hier nicht nur als Vorleser, sondern als auch auf der Bühne sichtbar Sorge tragender Pate eines Flüchtlings auf, dessen Geschichte er zu seiner eigenen machte: Wie es wohl wäre, als 29 Jahre alte Frau namens Poulina Sheba vom „Islamischen Staat“ aus dem Irak vertrieben zu werden? Als Mutter vom prügelnden Exmann gezwungen zu sein, die eigenen Kinder in Pakistan zurückzulassen? Oder sich als Mutter zweier Kinder von einem sexbesessenen Exmann zur Flucht aus dem Kosovo getrieben zu sehen? Und wie, diese Frage schwebte jenseits aller anderen die ganze lange Nacht über der Bühne, soll man diesen Geschichten gerecht werden – wo beginnt und wo endet eigentlich politisches Asyl? Darauf hatte auch das Theater in Mannheim keine Antwort. Aber es hat zumindest in die Richtung gewiesen, in die sich künftige Debatten werden wenden müssen.
(FAZ,5.10.2015)


Beeindruckendes Bürgerbühnen-Projekt
„Wir alle sind in diese Geschichte verwickelt“, heißt einer der Kernsätze aus Burkhard C. Kosminskis Inszenierung von Arthur Millers „Ein Blick von der Brücke“, geschrieben 1955 über das Thema illegale Einwanderung in New York und dem damit verbundenen sozialen Sprengstoff. Ein 60 Jahre altes Stück, das sechs Nationaltheater-Profis zusammen mit einer großen Statistenschar von Mannheimer Flüchtlingen und Hans Platzgumers Weltmusik-Quintett realisiert haben: als nachdenklich stimmenden Beitrag zum Saison-Leitmotiv „Integration durch kulturelle Teilhabe“.
 
In Florian Ettis Bühnenbild, einem heruntergekommenen Wohnraum mit zerfetzten Mustertapeten, gerät ein junges Liebesglück in Konflikt mit innerfamiliären Ressentiments. Die ältere Einwanderergeneration blickt auf die nachgereisten armen Schlucker herab. Und da die explosive Gemengelage auch noch mit dem Urproblem des Sexualneids verquickt ist, endet das Drama tödlich. Unter den Ensemblemitgliedern ragen Sven Prietz als kommentierender Anwalt und Anne-Marie Lux als Catherine heraus. Sie ist es, die sich in den illegal eingewanderten Rodolpho (Alexey Ekimov) verliebt, wodurch alles aus der Kontrolle gerät.
 
Der Kunstanspruch dieser Produktion ist nicht allzu hoch, sehr viel wichtiger ist das Thema, und das wird im zweiten Teil der Doppelpremiere noch stärker zugespitzt: „Mannheim Arrival“, so dessen Titel, ist eine dokumentarische Sammlung von Lebens- und Leidensberichten, die der Kulturjournalist Peter Michalzik nach Gesprächen mit in Mannheim lebenden Flüchtlingen aufgezeichnet hat. Vorgetragen werden sie von den Schauspielerinnen und Schauspielern, die zuvor in der Arthur-Miller-Inszenierung mitgewirkt haben, assistiert dabei von den geflüchteten Zeitzeugen selbst. Ein Schicksal wirkt erschütternder als das andere, aber der Ton bleibt sachlich und klar, heischt nie weinerlich um Mitleid. Eine enorme Leistung, durch die sich dieses Bürgerbühnen-Projekt auszeichnet. Dem Publikum schaudert’s trotzdem, wenn es von einem jugendlichen Afghanen hört, wie die Taliban in seiner Heimat morden und wie er sich nun in Deutschland nur in einer Tugend üben muss: in Geduld. Man hört von Ali aus Somalia, dessen Liebe (ähnlich wie bei Miller) soziale Stammesschranken sprengte. Oder man hört von der hochgebildeten Polina, die als Christin vor dem Terror des IS fliehen musste und nun ihre Kinder so sehr vermisst. Als prominenter Gast verlieh die TV-Schauspielerin Ulrike Folkerts dieser jungen Frau ihre Stimme. Ganz unprätentiös, frei von Starallüren. Während der nächsten Vorstellungen wird sich auch andere Schauspielprominenz ehrenamtlich beteiligen, darunter Ulrich Matthes oder Nicole Heesters. Bleibt zu hoffen, dass Peter Michalziks Flüchtlingsprotokolle bald auch als Buch erhältlich sein werden.
 
Begonnen wurde das von mehreren Sponsoren geförderte Mannheimer Großprojekt mit einem Vortrag des Migrationsforschers Klaus J. Bade, der präzise herausarbeitete, dass die Flüchtlingsströme für das „demografisch vergreisende Paradies“ namens Europa auch eine große Chance bedeuten.
(die-deutsche-buehne.de, 05.10.2015)


Angekommen
Die Flüchtlingskrise beherrscht die Theaterlandschaft, künstlerisch und in konkreten Projekten. Wie viel daran ist Kunst - und wo beginnt die Sozialarbeit?
Zum Beispiel Mannheim. Auf der zwecks Kleinbürgermilieuzeichnung besonders schäbig und beengt gehaltenen Bühne im Nationaltheater steht der sture Eddie und sagt trotzig: "Ich verlange Respekt." Eddie ist vor vielen Jahren ins Land gekommen und hat es als Einwanderer zu etwas gebracht. Den Respekt, den er für sich selber einfordert, verweigert er jedoch seinen beiden illegal nachgereisten Cousins, die bei ihm unterkommen. Dass der junge Rodolpho seiner Ziehtochter Catherine den Kopf verdreht und sie heiraten will, treibt Eddie in eine solche rasende Eifersucht, dass die Situation eskaliert. Erst denunziert er die Illegalen, dann provoziert er einen Messerkampf, bei dem er stirbt. Fremdenhass innerhalb der Familie. Ein Migrantenschicksal.
Eddie ist die Hauptfigur in Arthur Millers sozialrealistischem Drama "Ein Blick von der Brücke" aus dem Jahr 1955. Ursprünglich angesiedelt im Einwanderermilieu italienischer Hafenarbeiter im New York der Fünfzigerjahre, spielt es in Mannheim andeutungsweise im Hier und Heute und bildet als stundenkurze Parabel das dramatische Vorspiel zu dem Rechercheprojekt, das im Anschluss folgt.

Dieses trägt den Titel "Mannheim Arrival" und versammelt Geschichten von Flüchtlingen, die hier leben, warten und um ihre zurückgelassenen Angehörigen bangen. Entstanden sind diese sehr persönlichen Menschen- und Fluchtporträts aus Interviews, die der Kulturjournalist Peter Michalzik (unter Mitarbeit von Lea Gerschwitz) geführt und zu einem Theaterabend arrangiert hat. Vorgelesen werden sie von den Schauspielern, die zuvor das Arthur-Miller-Stück gespielt haben. Sie fungieren als Paten für die Geflüchteten, stellen diese vor und leihen ihnen ihre Stimme - und zwar in deren Beisein. Die meisten sitzen ihrem Vortrags-"Paten" auf einem Stuhl gegenüber. Die Atmosphäre ist freundschaftlich. Man umarmt sich, lächelt, gibt sich die Hand. Auf einer Riesenleinwand sieht man private Fotos. Zwischendurch gibt es lässig-afrikanische Musik, gespielt von einer Flüchtlings-Band.
Es ist ein sensibler Doppelabend, den Mannheims Schauspielintendant Burkhard C. Kosminski da als Hauptbeitrag zu seinem Spielzeit-Motto "Integration durch kulturelle Teilhabe" inszeniert hat - eines von vielen Projekten, mit denen Theater derzeit auf die Flüchtlingskrise reagieren, eines der ambitioniertesten. Schon in der Auswahl zum Berliner Theatertreffen im Mai - mit Einladungen wie Elfriede Jelineks Flüchtlings(chor)stück "Die Schutzbefohlenen" in der Regie von Nicolas Stemann oder Yael Ronens Balkankriegs-Recherche "Common Ground" - hat sich jene Repolitisierung abgezeichnet, der viele Bühnen zuvor mit ihren Anti-Pegida-Protesten Ausdruck verliehen hatten. Das Theater muckt auf - und mischt sich ein.

Jetzt, in der neuen Saison, da selbst die politisch aufgewecktesten Spielpläne von der Aktualität überrumpelt worden sein dürften, gibt es die vielfältigsten Spontanaktionen, mit denen die Schauspielhäuser sich engagieren und Asylsuchenden auch konkret helfen wollen - von Benefizkonzerten über Spendenaktionen bis hin zu Workshops und Begegnungsfesten. Kaum ein Haus, das nicht wenigstens eine Lesung ansetzt. Das Internetforum nachtkritik.de dokumentiert Beispiele für das Hilfsengagement einzelner Theater. Die Liste #RefugeesWelcome ist seitenlang und wird immer wieder aktualisiert.

Flüchtlinge sind nicht mehr wegzudenken, auch im Haus von Eddie nicht: Szene mit Asylbewerbern aus Arthur Millers Stück "Ein Blick von der Brücke".
Als gesellschaftliche Institutionen mitten in der Stadt begreifen sich die Theater über ihren ästhetischen Kulturauftrag hinaus nicht nur als Foren, sondern durchaus auch als Aktivisten im öffentlichen Diskurs, begreifen Öffnung, Partizipation, Einmischung als Teil ihres Auftrags. Sie nehmen Stellung, setzen Zeichen, machen - buchstäblich - ihre Türen auf. Bühnen wie das Hamburger Schauspielhaus oder das Deutsche Theater in Berlin stellten Flüchtlingen Matratzen-Notquartiere bereit. Auf dem Dach des Berliner Ensembles (BE) ließ Intendant Claus Peymann eine Fahne anbringen mit der Aufschrift: "Wo Häuser brennen, brennen auch Menschen" - aus Protest "gegen die Barbaren, die immer wieder Flüchtlingsheime in Brand setzen". Flüchtlingen bietet das BE Freikarten an. Shermin Langhoff, die Intendantin des Berliner Gorki Theaters, will Asylsuchenden "ganz praktisch" dabei helfen, Anträge und Formulare auszufüllen. Das Schauspiel Köln hat eine langfristige Patenschaft für zwei Flüchtlingsunterkünfte übernommen. Und das Hamburger Thalia Theater hat in vier Wochen 40 000 Euro Spenden eingesammelt. Das Geld soll direkt an Flüchtlingsinitiativen gehen.
Neben all diesen soziokulturellen Aktionen - vulgo: Sozialarbeit - ist die Flüchtlingsproblematik auch künstlerisch eine Herausforderung. Hier gestaltet sich die Umsetzung problematischer. Wie das oft Unfassbare auf die Bühne bringen? Wie das Leid der anderen darstellbar machen? Wie mit ihrer Stimme sprechen?
Der gesellschaftliche Umgang mit Flüchtlingen war schon vor 2500 Jahren ein Theaterthema, als Aischylos sein Drama "Die Schutzflehenden" schrieb. Die fünfzig Töchter des Danaos fliehen darin aus Ägypten, weil sie die Söhne des Aigyptos, ihre eigenen Vettern, heiraten sollen. Von diesen verfolgt, gelangen sie nach Argos, der Heimat ihres Geschlechts, wo sie bei König Pelasgos um Aufnahme flehen. Dieser gerät in einen moralisch-politischen Konflikt. Aus Gewissens- und rechtlichen Gründen muss er den Frauen Asyl gewähren, politisch riskiert er dadurch jedoch Krieg. Aischylos' Drama diente Elfriede Jelinek als Grundlage für ihr viel gespieltes Werk "Die Schutzbefohlenen" - das aktuelle Flüchtlingsstück schlechthin - und wird jetzt in so mancher Dramaturgie wieder herausgeholt. Am Schauspiel Leipzig hat Enrico Lübbe beide Texte in Korrespondenz gestellt und als Doppelprojekt inszeniert. An der Eckfassade des Theaters hängt dazu ein Bekennertransparent mit einem Goethe-Zitat: "Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter."
Der Grundverdacht ist, dass das Leid der Menschen künstlerisch ausgenützt wird
Viele Theater machen ihre eigenen Flüchtlingsprojekte, bringen - oft als Bürgerbühnenproduktion - "echte" Flüchtlinge mit ihren Einzelschicksalen oder ganze Flüchtlingschöre auf die Bühne. In dem Projekt "Ankommen - Unbegleitet in Hamburg", das am Samstag am Thalia Theater Premiere hat, erzählen acht Jugendliche aus Somalia, Afghanistan, Pakistan und Benin, wie das ist, als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sich in Deutschland zurechtfinden zu müssen. So authentisch und berührend solche Projekte oft sind, sie entgehen nie ganz dem Grundverdacht, das Leid der Menschen künstlerisch auszunutzen. Auch Stemann sah sich diesem Vorwurf ausgesetzt, als er bei der Uraufführung der "Schutzbefohlenen" eine Flüchtlingsschar auf die Bühne brachte. Menschliches Anschauungsmaterial zur Beglaubigung des Gesagten? Wie instrumentell oder gar dekorativ ist die personifizierte Authentizität?
Das sind Fragen, die sich - und denen sich - das Theater stellen muss. Auch im Mannheimer Miller-Stück kommen Flüchtlinge vor. In traumartigen Zwischeneinlagen rennen, tänzeln oder quengeln sie über die Bühne: Allgegenwärtige, die aus unserem Alltag nicht mehr wegzureden, wegzudenken sind. Eigentlich eine schöne Idee. An der Behutsamkeit, mit der das inszeniert ist, und der eigenen Überlegung, ob das politisch okay ist, merkt man jedoch die Befangenheit aller: die des Regisseurs genauso wie die des Publikums. Wir sind in dieser Thematik alle noch Unsichere, Suchende, Lernende. Wichtig ist, man weicht nicht aus. Wichtig ist aber auch: man ruht sich nicht aus. "Die Menschen, die bei uns ankommen, müssen auch auf der Bühne vorkommen", davon ist der Mannheimer Schauspielintendant Kosminski überzeugt. Er nennt das "Arbeit an der künftigen Gesellschaft". Flüchtlinge auf der Bühne, das sei aber auch "aktive künstlerische Integration": Die Arbeit für die Bühne stärke das Selbstwert- und Zugehörigkeitsgefühl.

Im Projekt "Ankommen - Unbegleitet in Hamburg" am Thalia-Theater erzählen minderjährige Flüchtlinge vom Leben in Deutschland.
Eines, sagt Kosminski, müsse aber klar sein bei all den Flüchtlingsprojekten in den Theatern: "Wenn wir mit ihnen arbeiten, übernehmen wir Verantwortung. Wer Theater mit Flüchtlingen macht, muss sich um die soziale Integration kümmern, um Arbeit, Ausbildung, Sprache, Lebensumstände." Dass das Geld kostet, ist auch klar. In Mannheim geht das Flüchtlings-Doppelprojekt mit einer sozialen Offensive einher, unterstützt von Wirtschaft, Politik und diversen Hilfsorganisationen. Das sieht dann so aus, dass die mitwirkenden Flüchtlinge Bildungsgutscheine und "individuelle, auf das jeweilige Bildungsniveau zugeschnittene Qualifikationsangebote" bekommen. Sprachförderung zum Beispiel oder berufsvorbereitende Kurse.
Auf Langfristigkeit und Nachhaltigkeit - und letztlich auf eine "Konversion" - angelegt ist auch die Initiative "Munich Welcome Theatre" der Münchner Kammerspiele. Sie sieht eine Öffnung des Theaters für die Themen Flucht, Ankunft und Asyl vor - und zwar sowohl inhaltlich "als auch in den Strukturen und beruflichen Qualifizierungsmöglichkeiten". Bei einem "Open Border Kongress" am vergangenen Wochenende haben die Kuratoren Björn Bicker und Malte Jelden mit einem umfangreichen Programm aus internationaler Panel-Experten-Kompetenz und buntem Performance-Treiben die Schleusen dafür schon mal geöffnet. Intendant Matthias Lilienthal bezeichnete diesen Kongress als ein "klares politisches Statement" und versprach bei einer Podiumsdiskussion, die Münchner Stadtgesellschaft mit ihrem Migrantenanteil von 37,2 Prozent langfristig auch an seinem Haus spiegeln zu wollen.
Der Migrations-Hype im Theater sei vorbei, so Lilienthal, "was nun kommt, sind die Mühen der Ebene", sprich: die Umsetzung im Alltag. "Man kriegt dafür keine Blumen. Umso stärker muss man das Thema behaupten."
(Süddeutsche Zeitung, 19.10.2015)


Interview / spiegel online
Flüchtlinge im Theater: "Quatsch, fürs Predigen ist die Kirche zuständig"
Was können Künstler für Flüchtlinge tun? Eine ganze Menge, wie die deutschen Theater derzeit zeigen. In Mannheim organisiert der Intendant Burkhard C. Kosminski ein besonders ambitioniertes Projekt.
Deutsche Theater sammeln Spenden, stellen Schlafplätze zur Verfügung, organisieren Diskussionsrunden - und inszenieren ein Stück nach dem anderen zum Thema Flüchtlinge, darunter immer wieder Elfriede Jelineks "Die Schutzbefohlenen".
Ganz vorne mit dabei ist das Nationaltheater Mannheim, an dem Jelineks Text vor gut einem Jahr als Gastspiel des Hamburger Thalia-Theaters uraufgeführt wurde. Auf dem Mannheimer Spielplan steht Lutz Hübners neues Zuwanderungsstück "Phantom (Ein Spiel)", geplant ist zudem eine Volker-Lösch-Bearbeitung von Aischylos' "Die Schutzflehenden".
Am Tag der Deutschen Einheit kombiniert der Intendant Burkhard C. Kosminski zunächst Arthur Millers klassisches Flüchtlingsdrama "Blick von der Brücke" mit dem dokumentarischen Stück "Mannheim Arrival", das der Journalist Peter Michalzik aus Interviews mit Flüchtlingen destilliert hat. Teil der Inszenierung sind ein Chor und eine Band aus Flüchtlingen.

SPIEGEL ONLINE: Herr Kosminski, hat es eine symbolische Bedeutung, Flüchtlinge auf die Bühne des Nationaltheaters zu holen?
Kosminski: Ich kann darin keine Symbolik sehen. Wir sagen nicht, dass sie damit Deutsche werden. Wir sagen nicht, dass sie die Nachfolger von Schiller sind. Aber, mal im Ernst, wir sagen: Sie sind hier.
SPIEGEL ONLINE: Was haben die Flüchtlinge davon?
Kosminski: Sie sind nicht mehr isoliert. Sie profitieren von Teilhabe, Integration, Beschäftigung, von Auseinandersetzung mit sich und der Gesellschaft. Sie wollen etwas tun, sie wollen eine Stimme.
SPIEGEL ONLINE: Ihr angekündigtes Ziel ist es, die Flüchtlinge auch über die Aufführungen hinaus ans Theater zu binden. Wie soll das funktionieren?
Kosminski: Wir versuchen, die Flüchtlinge dort abzuholen, wo sie sind. Im Rahmen der Mannheimer Bürgerbühne können sie Workshops und Seminare geben, in denen sie Zuschauern ihre Qualifikationen und Kenntnisse vermitteln. Zudem bekommen alle am Projekt beteiligten Flüchtlinge Bildungsgutscheine, zum Beispiel für Sprachförderung. Wir versuchen, ihnen Chancen zu eröffnen, und haben uns dafür mit vielen Partnern vernetzt: Landes- und Stadtpolitik, Sozialverbände wie die Caritas, Wirtschäftsverbände und Unternehmen wie BASF, Beratungsstellen wie das interkulturelle Bildungszentrum.
SPIEGEL ONLINE: Gehört es zu den Aufgaben eines Theaters, Sozialarbeit zu leisten?
Kosminski: Nein! Aber wir leben in einer Zeit, in der uns Theatermachern nachdrücklich bewusst wird, dass das Theater eine zentrale gesellschaftliche Einrichtung ist. Das Theater muss sich auf dem Gebiet der Zuwanderung engagieren, wie alle anderen Institutionen auch. Wir kommen nicht an der Frage vorbei: Wie können wir unsere Kompetenz, aktuelle Problemlagen auf die Bühne zu bringen, so erweitern, dass sie der Not der Flüchtlinge und der ungelösten Aufgabe unserer Gesellschaft gerecht wird?
SPIEGEL ONLINE: Auch sehr viele andere Theater starten zurzeit Flüchtlings-Projekte. Was können Kunst und Theater, was Politik und Sozialarbeit nicht besser können?
Kosminski: Unser Projekt wurde vor über einem Jahr entwickelt. Aber so sehr wir uns auch mühen, wir können selbstverständlich nur Kunst und Kultur wirklich, nicht Sozialarbeit. Wir können in unserer Stadt Impulse geben und Arbeitgeber, Politik, Verwaltung und Flüchtlinge vernetzen.
SPIEGEL ONLINE: Helfen die Flüchtlinge den Theatern dabei, wieder relevanter zu werden?
Kosminski: Wenn Theater sich nicht mit dem Heute beschäftigen und solche Themen umschiffen, dann bekommen sie ein Relevanzproblem.
SPIEGEL ONLINE: Das postdramatische Theater der vergangenen 15 bis 20 Jahre sah seine Aufgabe darin, Gewissheiten aufs Spiel zu setzen. Ändert sich das gerade? Predigt das Theater wieder?
Kosminski: Quatsch, fürs Predigen ist die Kirche zuständig.
SPIEGEL ONLINE: Im Ernst: Beobachten wir einen Paradigmenwechsel? Hin zu einem Theater, das politisch wieder deutlicher Position bezieht?
Kosminski: Mein persönlicher Eindruck ist, dass sich die Gesellschaft und die Theater danach sehnen, politische Themen und Konflikte aufzugreifen und auf der Bühne zu verhandeln. Ob das ein Trend ist, vermag ich nicht zu sagen. Dabei gehen wir ein Risiko ein: Wir alle meinen zu wissen, Theater mit Flüchtlingen geht nicht. Sie wirken leicht ausgestellt und benutzt. Gleichzeitig wissen wir, wir müssen es versuchen. Zur humanitären Katastrophe unserer Zeit kann das Theater nicht schweigen.
SPIEGEL ONLINE: Kann engagierte Kunst denn gute Kunst sein? Ist gute Kunst nicht immer ambivalent?
Kosminski: Gute Kunst ist immer in irgendeiner Beziehung engagiert, und gute Kunst ist immer ambivalent. Wir werden schon damit umgehen müssen, dass unsere Welt schwierig und widersprüchlich ist. Auch beim Thema Flüchtlinge. Es gibt einfach Dinge, die man tun muss, auch wenn sie scheitern können.
(spiegel online, 02.10.2015)


Angekommen in Mannheim
Mit einem langen und vielstimmigen Theaterabend widmet sich das Nationaltheater dem Thema Flüchtlinge
„Schon vor einem Jahr wollte das Mannheimer Nationaltheater die Flüchtlinge zu einem Themenschwerpunkt im Spielplan machen, dann wurde man ein wenig von der realen Geschichte überrollt. Theatertexte allein schienen da nicht mehr zu reichen. Schauspielintendant Burkhard C. Kosminski und seine Mitstreiter haben nun einen mehrteiligen Abend geschaffen mit Vortrag, Arthur-Miller-Drama und vielen Mannheimer Flüchtlingen und ihren Geschichten. […]
Der Journalist und Autor Peter Michalzik hat mit vielen Flüchtlingen gesprochen, hat die Interviews am Ende zu einem dokumentarischen Bühnentext verdichtet. Es sind ganz unterschiedliche und sehr persönliche Fluchtgeschichten, vordergründig geht es um privates Unglück, aber dahinter stehen die großen Probleme unserer Zeit: Krieg, Terror, religiöser Fanatismus, wirtschaftliche Not. „Mannheim Arrival“ zeigt die Folgen, die Menschen, die solche Katastrophen aushalten müssen und die, wenn sie Glück haben, in einem Flüchtlingslager in Mannheim landen. „Mannheim Arrival“ ist das berührende Zentrum dieses vielschichtigen Theaterprojekts. Der mehr als fünf Stunden dauernde Abend hatte mit einem Vortrag des Historikers Klaus J. Bade begonnen. Der Migrationsexperte skizzierte den weltpolitischen Rahmen der aktuellen Flüchtlingsströme, sprach über die von westlichen Wirtschaftsinteressen befeuerten Krisenherde, kritisierte die europäische Abschottungspolitik und warnte vor der Gefahr einer erstarkten Rechten in Deutschland, sollte Merkels Asylpolitik scheitern. […]“
(Die Rheinpfalz, 05.10.2105)


[…]„In seinem klugen, der Uraufführung vorgeschalteten Kurzvortrag benennt Migrationsforscher, Publizist und Politikberater Klaus J. Bade einige Dinge, die uns, die saturierte westliche Welt, keinesfalls von einer Mitschuld an den Elendszuständen der Herkunftsländern freispricht: Für jeden Dollar, der nach Afrika geht, erhalten wir zwei zurück. Wir liefern Waffen, machen Geschäfte, entsorgen unseren Müll, sind der Meinung, dass ein zweistelliger Millionenbetrag für Flüchtlingshilfsprogramme nicht leistbar sei, haben aber nach nur kurzem Zögern im dreistelligen Milliardenbereich unsere Banken gerettet…Ja, man darf der Komplexität der Zusammenhänge wegen auch mal überfordert sein – und bei der Frage „Was haben wir denn bitte mit den Zuständen dort zu tun?“ einen Augenblick länger nachdenken.
Kosminski setzt Zeichen
Es ist ein Abend, der einem Vormittag folgt, der in Mannheim unter den Motti „Flüchtlinge sind willkommen“  und „Hilfe statt Hass“ stand. Schauspielintendant Burkhard C. Kosminski hat es unternommen, sein eigenes künstlerisches Zeichen zu setzen. […]
Das Ensemble, bereichert um Schauspielerin Ulrike Folkerts, stellt sich vor, berichtet (noch launig) von seinen eigenen Migrationshintergründen und gibt den Geschichten der nach Mannheim geflohenen Menschen Gesichter und Stimmen. Die Hilfesuchenden selbst sind auch zu sehen, kommen auf die Bühne, sitzen im Zuschauerraum, blicken als Videoprojektion auf uns oder sprechen selbst in ihrer Muttersprache zu uns.
Peter Michalzik hat für sein Rechercheprojekt „Mannheim Arrival“ eher ein journalistisches, denn ein dramatisches Format gewählt. Unprätentiös treten je ein Schauspieler und ein Asylsuchender auf, man spricht im Stehen, am Pult, sitzt auf einem Stuhlt, steht an der Rampe. Mord, Terror, Vergewaltigung, Genitalbeschneidung, Chancenlosigkeit, Angst, Hunger: Warum diese Menschen aus Libyen, Pakistan, Afghanistan, Guinea, Somalia, Gambia, dem Irak und Kosovo zu uns gekommen sind, braucht keiner mehr zu fragen.
Auch nach den dem Deutschen so wichtigen Papiere, die es in afrikanischen Dörfern nun mal nicht gibt, braucht nach einem eindringlichen Ensemblechor nicht zu fragen. Theater leisten mehr als Fernsehen. Das wird teils so konkret, dass man es kaum aushalten kann. Und ja, man darf auch überfordert sein, wie es die zahlreichen Helfer, Organisationen, städtischen Mitarbeiter und Politiker derzeit sind. Die schiere Masse der Einzelschicksale ist an diesem gut vierstündigen Abend kaum zu ertragen. Und man darf vermuten, dass die Spieldauer pure Absicht und hohe Dramaturgie ist. […]“ 
(Mannheimer Morgen, 05.10.2015)