Marius von Mayenburg

Freie Sicht

Inszenierung: Burkhard C. Kosminski
Bühne:
Florian Etti
Kostüme: Ute Lindenberg
Musik:
Hans Platzgumer
Licht: Nicole Berry
Video: Marc Reisner
Dramaturgie: Katharina Blumenkamp

Deutschsprachige Erstaufführung am 7. Oktober 2009

Nationaltheater Mannheim

Besetzung:
Ein Schwarm : Jenny König, Silja von Kriegstein,
Sven Prietz, Klaus Rodewald, Peter Rühring, Anke Schubert

 

 


Pressestimmen:

Der Kontrollwahn frisst seine Kinder -
Deutschland, deine Kinder: Mal als Prinzchen und Prinzessinnen, rundum überversorgt und in Zuckerwatte gepackt, mal als Wohlstandsverwahrloste nervend oder als No-Feature-Kids im Prekariats-Ghetto von vornherein abgeschrieben. Hilflosigkeit, Aggressionen und Versagensängste wabern in Gesellschaft und Mittelstandsfamilien. Das Bäumchen-wechsle-dich-Spiel der Schuldzuweisung wird mit verbiestertem Eifer gespielt. Den Puls der Zeit in Sachen Wohlstandsorientierungslosigkeit fühlt wieder einmal mehr Marius von Mayenburg.
In seinem aktuellen, wenn auch nicht mehr ganz neuen Stück "Freie Sicht" gebiert die gesellschaftliche Hysterie mit ihren Bedrohungsszenarien und ihrer Überwachungsparanoia einen neuen Kindertypus – die kleinen Terrormonster. Es ist die Horrorvision von den lieben Kleinen, die bei Dunkelheit über Parkplätze schleichen und grüne Sprengstoffpakete in Papierkörbe plumpsen lassen.
Verantwortungslosigkeit der Verantwortlichen -
Zufall oder nicht, im Musterländle Baden-Württemberg, wo im Provinzstädtchen Winnenden vor einem halben Jahr ein Siebzehnjähriger Amok lief, Lehrer und Schüler erschoss, bevor ihn selbst eine Polizeikugel tötete, läuft am Nationaltheater Mannheim die deutsche Erstaufführung des Mayenburg-Stücks von der Verantwortungslosigkeit der eigentlich Verantwortlichen (Uraufführung war in der australischen Provinz).
Theater als szenische Reflexion: In Mayenburgs Stück wird Aktion durch das Reden darüber ersetzt. Die Bühne ist leer, und leer ist der Betroffenheitstalk der Elterngeneration über ein zehnjähriges Mädchen (Jenny König), das sich stumm von einer Bühnenseite zur anderen schleicht. Drei Männer, zwei Frauen, in der Besetzungsliste als "Schwarm" entindividualisiert, bilden diesen einen Organismus aus herbeigeredeten Aufgeregtheiten. German-Angst – mehr komisch als tragisch.
Silja von Kriegstein, Sven Prietz, Klaus Rodewald, Peter Rühring und Anke Schubert schaukeln mit dem Pingpong ihrer Verdächtigungen, Ahnungen, Befürchtungen und mit ihrem Psychogequirl die Situation hoch. Zumal dann auch noch in einem Kaufhaus ein grünes herrenloses Paket gefunden wird. Die Verantwortung wird jetzt an die Staatsmacht abgegeben: Einsatzkommandos marsch!
Herrenlose grüne Schachteln -
In letzter Sekunde wird alles abgeblasen. Im Kaufhauskarton liegt ein wimmernder Säugling, ausgesetzt von der Mutter. Ein Scharfschütze hat jedoch die Entwarnung nicht mitbekommen. Ein Schuss fällt. Das Mädchen aus der Mittelstandssiedlung hat ein Loch im Kopf, tritt aber nach dem Schreckensreport des "Schwarms" noch einmal an den Bühnenrand, um aufzuklären: In seiner grünen Schachtel war ebenfalls kein Sprengstoff, nur ein toter Vogel, den die Katze gemeuchelt hat. Sie hat das gefiederte Etwas, das als Spielzeug nicht mehr taugen wollte, nur mal schnell entsorgt. Die Alten allerdings waschen ihre Hände in Unschuld: Man habe nicht anders handeln können. Man wollte doch nur Schlimmeres verhüten – der Kontroll- und Sicherheitswahn der Gesellschaft frisst seine Kinder.
Die Realität in den Kinderzimmern wird per Video ins Bühnenspiel eingeblendet. Ballerspiel-Perspektive über den Lauf einer Pump Gun hinweg. Ein Horrortrip in Schulgängen und Klassenzimmern. Die Opfer fallen um wie Pappkameraden im Schießkino. Blut spritzt.
Purismus mit Wirkung -
Die Frage, ob dieser Erzählstoff bekannter Mayenburg'scher Machart – mehr verhandeln als handeln – überhaupt bühnenfähig ist, hatte der Regisseur und Mannheimer Schauspieldirektor Burkhard C. Kosminski zu beantworten. Er verzichtet auf Regiemätzchen und originelle Visualisierung, lässt nur ab und an seine Truppe auf Plastikbällen wie bei einer Familientherapiesitzung herumwippen. Kosminski setzt dafür auf Dekuvrierung durch die Sprache des Banalen, pointiert eingesetzte Körpersprache inklusive.
Das schicksalsergebene Räsonieren, das vom Verlust eines individuellen und kollektiven Urvertrauens Zeugnis ablegt, erinnert an den Purismus antiker Tragödien. Und das nicht nur, weil der Regisseur hinter den Zuschauerreihen Mitglieder der Mannheimer Theaterakademie als Sprechchor in Stellung bringt. So funktioniert Theater, kann ein Spannungsbogen aufgebaut, kann Katharsis ermöglicht werden. Das Mannheimer Nationaltheater im Schillerjahr 2009: Man ist der ästhetischen Bildung durch sinnliche (Theater)-Welterfahrung verpflichtet, auch ohne den Erfinder des deutschen Idealismus. Mit dem Spielzeitauftakt wird bewiesen, was die Bühne stets zu beweisen hat: Nach dem Regiefeuerwerk der Lulu mit faszinierend provokanten Bildern (Calixto Bieito) nun mit "Freie Sicht" aktuelles Autorentheater. Das Publikum beeindrucken können beide Formate.
(Nachtkritik.de)

 

Bomben, die in Vögeln ticken
...Gibt eine Gesellschaft sich generalisierter Angst hin, verschwinden individuelle Stimmen. Also lässt Mayenburg einen ‚Schwarm’ sprechen. Man kann diese Sprachpartitur frei verteilen. Burkhard C. Kosminski tat gut daran, das Elternpaar eindeutig mit Silja von Kriegstein und Klaus Rodewald zu besetzen und das allgemeine Plappern zu personalisieren: Anke Schubert als die naiv Abwartende, Sven Prietz als der bürokratisch Lauernde und Peter Rühring als überfordert Staunender. Zusammen räsoniert die fünfköpfige Angstcrew, ob die Tochter des Ehepaares nicht doch eine grüne Schachtel in einem Papierkorb deponiert haben könnte, der jetzt von einem Sonderkommando geräumt werden soll. Da hilft es nichts, dass das Kind nur einen Vogel bestattet hat, wie Jenny König im Schlussmonolog des Mädchens erzählt. Auch in jedem Vogel könnte eine Bombe ticken.
Kosminski platziert im klar strukturierten Bühnenbild von Florian Etti ein zurückhaltendes Angstspiel, unterfüttert mit Videos, in denen die fünf Panikspieler zum Opfer eines Ego-Shooters werden.
(Süddeutsche Zeitung)

 

Terrorist im Kinderzimmer
Von Terrorangst und Sicherheitswahn handelt Marius von Mayenburgs neues Stück ‚Freie Sicht’. Nach der Uraufführung in Australien beim Adelaide Festival erlebte das Stück nun am Nationaltheater seine deutschsprachige Erstaufführung. Mannheims Schauspieldirektor Burkhard C. Kosminski machte dabei aus einem kleinen Text einen großen Theaterabend.
... Kosminski belässt das Stück in seiner Inszenierung genau in der Schwebe zwischen tödlichem Ernst und comic-hafter Lockerheit. Die blaue Bühnenbox von Florian Etti vereinnahmt gleich den ganzen Zuschauerraum, in dem auch 16 Schauspielstudenten Platz genommen haben und später wie ein antiker Chor das dramatische Geschehen skandierend reportieren und kommentieren. Silja von Kriegstein, Klaus Rodewald, Anke Schubert und Peter Rühring auf der Bühne droben beginnen als Elterngruppe mit Sorgenfalten, diskutieren ihre Beobachtungen, bauschen auf, spielen herunter, entspannen, so gut es geht auf therapeuthischen Hüpfbällen. Herrlich klischeehaft das Ganze, dazu Sven Prietz, ohnehin das Komikertalent im Ensemble, als Gruppenleiter und Indizienschnüffler. Zwischendurch sieht man die fünf auch in einem an die Rückwand projizierten Videospiel, ein fieses Killerspiel à la ‚Counterstrike’, bei dem der Spieler mit seiner Knarre möglichst viele Opfer niederstreckt. Die weißen Wände im virtuellen Szenario kriegen zunehmend hässliche blutrote Flecken, und auch die Leutchen auf der Bühne verlieren allmählich ihre liberale Geduld. Der Tod des Kindes wird am Ende irgendwie als Kollateralschaden einer sicherheitsbewussten Gesellschaft geschluckt. Jenny König als Mädchen im kurzen Rock sitzt und steht die ganze Zeit stumm und verträumt herum und darf zum Schluss noch traurig erklären, wie das arme Vögelchen in die verdächtige Schachtel kam.
(Die Rheinpfalz)

 

Unruhe der Kuscheltiere
...Mayenburg unterfüttert seine ‚Freie Sicht’ auf die dunklen Seiten der Familie mit Werwolf-Mythen, gewalttätigen Visionen und poetischen Bildern und enthält sich dabei aller Erklärungs- und Individualisierungsversuche. Burkhard C. Kosminski überblendet im Nationaltheater Mannheim die blauen Wände des Bühnen-Aquariums mit Videos von Egoshooter-Amokläufen und gibt den Erwachsenen mit den ‚blutunterlaufenen Augen’, die bei Mayenburg nur ein ‚Schwarm’ von schnatternden, besorgten, überforderten Stimmen sind, ein Gesicht: Klaus Rodewald ist der rat- und hilflose Vater, Silja von Kriegstein die hysterisch überforderte Mutter, Anke Schubert die komische Tante, Peter Rühring der begriffsstutzige Onkel, Sven Prietz ein oberschlauer Sicherheitsberater.
Auf den Gymnastikbällen einer Selbsthilfegruppe spielt der Elternschwarm die gruppendynamischen Prozesse von Verantwortung, Führung und Entscheidungsfindung durch. Das Kind, das auf dem Schlachtfeld gescheiterter Erziehung stirbt und auf dem Friedhof der Kuscheltiere aufgebahrt wird, kommt erst ganz am Ende zu Wort: Im Schuhkarton war nur ein von der Katze zerzauster Vogel.
(Frankfurter Allgemeine)

 

Kettenreaktion im Kopf
In die Stille fällt gegen Ende ein Schuss. Zu hören ist er jedoch in Marius von Mayenburgs Stück ‚Freie Sicht’ nicht. Denn in dieser deutschsprachigen Erstaufführung, die Schauspieldirektor Burkhard C. Kosminski am Nationaltheater Mannheim inszeniert hat, wird vor allem gesprochen und erzählt. Aber das Sprechstück bleibt nicht nur Textteppich, sondern entwickelt eine wachsende Dynamik, bis es schließlich in hektische, sich überstürzende Wallung gerät – und Menschen in Computerspielmanier ermordet werden.
... Eindrucksvoll kommt dieser Zusammenprall der Welten in den Videosequenzen zum Ausdruck. In der Art eines überdimensionalen Computerspiels zeigen sie ein blutiges Massaker bei einem Amoklauf an einer Schule, während sich die Schauspieler scheinbar unbeteiligt in dieser hellfarbigen Projektion als schwarze Schattengestalten bewegen.
(Rhein-Neckar-Zeitung)

 

Ratlose Eltern an der Rampe
... Der nicht einfachen Textsituation wird Kosminski nicht durch Abstraktion, sondern durch konkretes Spiel Herr. Dass das Konzept aufgeht, verdankt er auch den sechs Spielern, die es beherzt mittragen: Silja von Kriegsteins überforderter Mutter ist der schnell aufbrausende Gatte (Klaus Rodewald) keine große Hilfe. Die betulich ängstlichen Quasi-Großeltern Anke Schubert und Peter Rühring spielen ihre Konfliktvermeider- und Schuldzuweiser-Rollen ebenso glänzend wie Sven Prietz, der auch der sich zuspitzenden Dramatik noch komische Momente beimischt. Das Kind (Jenny König) hat bis zum aufklärenden Schlussmonolog freilich nichts zu sagen: Wenn sich Erwachsene unterhalten, haben Kinder eben den Mund zu halten...
(Mannheimer Morgen)