Anna Jablonskaja

Heiden

Inszenierung: Burkhard C. Kosminski
Bühne:
Florian Etti
Kostüme: Lydia Kirchleitner
Musik:
Hans Platzgumer
Licht: Nicole Berry
Dramaturgie: Katharina Blumenkamp

Deutschsprachige Erstaufführung
am 27. September 2012

Nationaltheater Mannheim

Besetzung:
Marina: Anke Schubert
Oleg: Reinhard Mahlberg
Kristina: Katharina Hauter
Natalja Stepanowna: Gabriela Badura
Bootsmann: Klaus Rodewald
Doktor: Ragna Pitoll
Priester/Sergej: Sven Prietz

 

 


Pressestimmen:

Die Verlorene von Odessa
Die ukrainische Dramatikerin Anna Jablonskaja starb 2011 bei einem Terroranschlag auf dem Moskauer Flughafen. Jetzt kommt ihr wichtigstes Stück "Heiden" in Deutschland heraus. Sie hat über "die Saukälte am Ufer des dreckigen eisigen Meeres" geschrieben, über "die fetten schwarzgeflügelten Raben" in den Parks und über die Geldgier, die Gleichgültigkeit und die Kulturverachtung ihrer Mitbürger. Viele ihrer russischen Freunde haben ihr gesagt, sie müsse unbedingt abhauen aus Odessa und aus der Ukraine, aber die Schriftstellerin Anna Jablonskaja ist geblieben. Jetzt, im Spätsommer 2012, kann man das verstehen.
Eine milde, herbstliche Sonne scheint auf die abblätternden Jugendstilfassaden von Odessa. Auf den Straßen schieben sich zerbeulte Busse und blankpolierte BMW-Limousinen durch die viertelmetertiefen Pfützen, die der letzte Gewitterregen hinterlassen hat. Am Straßenrand hat das "Harley Rock Cafe" ein paar Tische aufgestellt. An einem dieser Café-Tische berichtet der Mann, mit dem Anna Jablonskaja sechs Jahre lang verheiratet war, vom Kampfgeist der Dichterin: "Manchmal stelle ich mir vor, wie begeistert sie sich für die Punkrockerinnen von Pussy Riot in die Schlacht gestürzt hätte in diesem Sommer", sagt Artjom Maschutin, "sie hätte auch hier in Odessa eine Menge Wirbel gemacht."
Die ukrainische Schriftstellerin Jablonskaja, deren Stücke in Moskau, St. Petersburg und Minsk aufgeführt und angefeindet und gelobt wurden, wird nie mehr für die Freiheit der Kunst kämpfen. Sie starb durch eine Bombe, die ein Selbstmordattentäter am 24. Januar 2011 um 16.32 Uhr im Ankunftsbereich des Moskauer Flughafens Domodedowo explodieren ließ, unmittelbar neben den Gepäckbändern. 36 Menschen wurden durch die Bombe getötet, unter ihnen der angebliche Täter, ein 20-jähriger Islamist aus Inguschien; mehr als 150 Menschen wurden verletzt. Anna Maschutina, die unter ihrem Mädchennamen Jablonskaja schrieb, war 29 und eines der jüngsten Opfer des Terroranschlags. Sie war gerade aus Odessa angekommen, wo sie sich am Morgen von ihrem Mann und ihrer damals dreijährigen Tochter verabschiedet hatte. Das Ziel ihrer Reise war eine Preisverleihung. Auf der Gala einer großen russischen Filmzeitschrift sollte sie in Moskau ausgezeichnet werden für ihr Stück "Heiden" - weil es, so die Meinung der Preisrichter, auch als Filmstoff erstklassig sei.
"Heiden" ist das vermutlich wichtigste Werk von Jablonskaja. Sie hat Gedichte, Essays und fast 20 Theaterstücke verfasst, die "Videokamera" heißen oder "Kosmos" und sich fast alle auszeichnen durch handwerkliche Gerissenheit und einen poetischen Zorn. In den Nachrufen wurde Jablonskaja als große Hoffnung des russischen Theaters gewürdigt. Sie habe die moderne Welt "mit einer die Eingeweide zerfetzenden Härte" beschrieben, hieß es zum Beispiel in der "New York Times". Doch zugleich war sie eine magische Realistin, deren Stücke von einem untröstlichen Liebes- und Glücksverlangen zeugen; bei aller existentialistischen Unerbittlichkeit münden sie fast immer in einer Art Happy End. Jablonskaja lässt einen in menschliche Höllen blicken, wie es Filme wie Fernando Meirelles' "City of God" oder Theaterskandal-Klassiker wie Edward Bonds "Gerettet" tun, aber auf wundersame Weise sind die Helden ihrer Dramen (und die Zuschauer) am Schluss jeweils noch mal davongekommen.
In dieser Woche kommt "Heiden" zum ersten Mal auf einer deutschen Bühne heraus, im Mannheimer Nationaltheater, wo man sich seit ein paar Jahren so fleißig und engagiert um internationale Gegenwartsdramatik kümmert wie sonst nirgends im deutschen Sprachraum. "Heiden" ist das Stück einer Autorin, die man in Odessa als "Satansweib" beschimpft habe, wie der Witwer Artjom Maschutin sagt. Auch in Moskau haben sich ein paar Zuschauer wegen angeblich blasphemischer Sätze aufgeregt - in einem Drama, das perfekt auf der Höhe unserer Zeit ist, einer Zeit, in der religiöse Raserei weltweit ein Massensport zu sein scheint.
"Heiden" beginnt als ziemlich gewöhnliches Familiendrama in einem Großstadtwohnblock. Eine ältere Frau kommt nach vielen Jahren zu Besuch bei Schwiegertochter, Sohn und Enkelin und spielt sich als Erleuchtete auf, die christliche Frömmigkeit und Gottesgehorsam lehrt - und gerade weil die Alte mit ihrer eifrigen Missionierungsarbeit erst Erfolg hat, nehmen gleich mehrere Katastrophen ihren Lauf. Jablonskajas Stück spielt in einer verkommenen Welt unter lauter komplett Orientierungslosen. Die eigentliche Heldin ist eine 19-Jährige namens Kristina, die ihr Studium geschmissen hat und sich, so glauben ihre Lieben, allnächtlich am Schwarzmeerstrand als Prostituierte verkauft. Um sie herum zetert eine kaputte, aber keineswegs unsympathische Brut. Kristinas Vater ist ein verhinderter Künstler, der Klarinettist in der Oper werden will und sich im Badezimmer einschließt, um dort Radio-Sinfonien zu hören. Kristinas Mutter ist eine Matrone, die ihren Mann als Versager beschimpft und die Nachbarn anbrüllt - aber wenn ihr Handy klingelt, zerfließt ihre Stimme vor Schleimerei, weil sie nebenbei als Maklerin Wohnungen verhökert, "dunkle, stinkende Flure", wie es im Stück heißt.
Komisch und rabiat schildert "Heiden" den postsowjetischen Alltag in einer Hafenstadt, die Odessa gleicht. Manche in der Stadt bezichtigten Jablonskaja, sie sei eine Nestbeschmutzerin. Dass sie nicht auf Ukrainisch, in der einzig offiziellen Landessprache, schrieb, sondern auf Russisch, machte die Sache nicht einfacher. Auf Ukrainisch wären ihre Stücke Ladenhüter geblieben. Außerdem, so sagt Artjom Maschutin: "Auch 21 Jahre nach der Unabhängigkeit denken fast alle Menschen in Odessa immer noch auf Russisch. Sie träumen sogar auf Russisch."
Anna Jablonskaja wurde öfters verglichen mit Sarah Kane und Mark Ravenhill und den jungen britischen Dramatikern der Neunziger, doch anders als die legendären wilden Briten erzählt Jablonskaja nicht in surrealistisch schrillen Horrorbildern, sondern in lakonischer Beiläufigkeit von Gemeinheit, Gier und Gewalt. Wobei es durchaus vorkommt, dass einer ihrer Figuren plötzlich ein Blutschwall aus dem Auge quillt und alle herumbrüllen vor Schreck. In Odessa ist sie dem Elend, das sie beschreibt, fast täglich begegnet. Die Stadt am Meer, in der ein buntes Völkergemisch unter anderem aus Juden, Griechen, Bulgaren, Polen lebt, hat heute einen ziemlich miesen Ruf. Auf den Boulevards in Hafennähe sind neben braven Kreuzfahrt-Tagesausflüglern jede Menge Sextouristen aus Russland und Deutschland unterwegs, auch für heiratswillige westeuropäische und amerikanische Männer ist die Stadt ein beliebtes Ziel. Nach Schätzung der Weltgesundheitsorganisation WHO ist jeder sechste Stadtbewohner mit HIV infiziert, das ist in Europa Rekord. Die Wirtschaft der Ukraine leidet, weil Korruption und Rechtsunsicherheit ausländische Investoren abschrecken. Politisch ist das Land seit der Orangen Revolution von 2004 in Unruhe, die Inhaftierung der Revolutionsheldin und ehemaligen Regierungschefin Julija Timoschenko hat die Nation weiter isoliert.

Jablonskaja ist in dürftigen Verhältnissen aufgewachsen, als Tochter eines Journalisten, der seinen jüdischen Namen gegen einen ukrainischen tauschte, weil er, wie Maschutin sagt, "seine Ruhe haben wollte". Jablonskajas Mutter hat ukrainische Vorfahren, bei ihr lebte sie nach der Scheidung der Eltern. Nach dem Abitur studierte sie in Odessa Jura und arbeitete nebenher in einer Getränkefirma. Schon als Teenager hatte sie mit dem Schreiben angefangen. Fast immer sind ihre Helden Menschen, die keinen Halt finden und ihr Heil in der Jagd nach dem Geld suchen, "90 Prozent ihrer Dialoge hat sie dem abgelauscht, was die Menschen auf der Straße oder im Café sprachen", behauptet Maschutin. Einer dieser Jablonskaja-Helden ist ein Söldner, der vom Kriegseinsatz im Irak zu seinen Lieben zurückkehrt, ein Krüppel an Körper und Seele. Ein anderer ein hoher Beamter, der sich den Auftrag aufhalsen lässt, alle Penner und Irren der Stadt zu vertreiben. Ein dritter schließlich ein korrupter Priester, der einen Import-Export-Handel aufgezogen hat, mit dem er absahnt, aber in den Containern, die seine frommen Helfer beladen und leerräumen, sind keine Bibeln und Hilfsgüter, sondern Zigaretten und Schnaps. Von der "Sinnlosigkeit des Weltenfundaments" ist, in Anspielung auf Nietzsche, im Stück die Rede. Die allermeisten ukrainischen Kulturverantwortlichen hätten Jablonskajas Arbeit schmählich ignoriert, sagt ihr Witwer. Nach ihrem Tod habe sich an dieser Ignoranz nichts geändert. Im Januar, zu Anna Jablonskajas erstem Todestag, lief im Russischen Theater der Stadt, einem Riesenbau mit frischgestrichener senfgelber Fassade, immerhin an drei Abenden das Stück "Heiden". Allerdings musste Maschutin das Theater für die Gedenkaufführungen mieten. Auch den Regisseur und die Schauspieler hat er bezahlt.
In Mannheim wird jetzt der Regisseur Burkhard C. Kosminski die deutsche Erstaufführung von "Heiden" präsentieren. Er nennt Jablonskajas Stück einen "krassen, erschütternden Wurf" und will eine Geschichte erzählen, die fast überall auf der Welt spielen könnte. "Diese brüchigen Existenzen, die da herumzetern und unzufrieden sind mit sich, der Gesellschaft und überhaupt der menschlichen Existenz, sind oft schreiend komisch", sagt Kosminski. Er hat in den vergangenen Jahren eine Menge neue Stücke aufgeführt, von deutschen Autoren wie Theresia Walser oder Felicia Zeller und von US-Dramatikern wie Tony Kushner oder Tracy Letts.
In den letzten Wochen vor ihrem Tod wirkte Anna Jablonskaja von Selbstzweifeln gequält, sagt Artjom Maschutin. "Sie fühlte sich elend, sie klagte, dass sich niemand ernsthaft interessiere für ihre Arbeit." Er habe gedacht, ihre Traurigkeit habe damit zu tun, dass sie zum zweiten Mal schwanger war. "Ich dachte, das wird schon wieder." In ihrem Internetblog notierte Anna Jablonskaja am 21. Dezember 2010: "Ich habe das Gefühl, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt." Mitte Januar verlor sie ihr Kind, eine Fehlgeburt, die Ärzte sagten, so was passiere. Eigentlich habe sie nicht zu der Preisverleihung nach Moskau fliegen wollen, sagt Maschutin, aus Rücksicht auf die dreijährige Tochter Mascha, Angst vorm Fliegen hatte sie sowieso. Dann entschied sich Anna Jablonskaja, doch aufzubrechen.
Vom Tod handeln viele ihrer Texte. Zum Beispiel vom Erschrecken zweier Liebender darüber, "dass es keinen Unterschied gibt zwischen einer Welt, in der wir sind, und einer Welt, in der wir nicht sind". Anton Tschechow und Sigmund Freud und Fjodor Dostojewski waren die Autoren, die Anna Jablonskaja verehrte. "Der Mensch ist nie bereit", beginnt einer von Jablonskajas schönsten Sätzen, den sie in den Monaten vor ihrem Tod niederschrieb. "Weder für das Glück noch für den Tod, überhaupt für gar nichts."
(Der Spiegel)

Einsam unter Gottsuchern
„Worüber soll man überhaupt schreiben, wenn man nicht einmal richtig gelebt hat? Gedankenfetzen – das ist alles, was ich auf diesem Papier, in dieser Minute, an diesem Tag hinterlassen kann. Ein bescheidenes Vermächtnis“, heißt es in Anna Jablonskajas biografischem Essay „Von Prometheus und Buchenwald“ aus dem Jahre 2006. Als die ukrainische Nachwuchsdramatikerin am 24. Januar 2011 bei einem islamistischen Terroranschlag am Moskauer Flughafen ums Leben kam, hieß es in einer Moskauer Zeitung: „Mit ihr starb möglicherweise die Zukunft der russischen Kultur.“
Zu Lebzeiten war der 29-Jährigen größere öffentliche Wahrnehmung verwehrt geblieben, nun hat das Mannheimer Nationaltheater ihrer gedacht. Heiden lautet der lakonische Titel von Jablonskajas wohl markantestem Stück, Schauspieldirektor Burkhard C. Kosminski brachte die deutschsprachige Erstaufführung auf die Bühne. Einfühlsam und ironisch zugleich skizziert er das Bild postsowjetischer Misere. Zu sehen ist ein spartanischer Wohnraum: Zwischen Esstisch und Dusche Umzugskartons, kein Raum zum Leben. Auch in der Familie kaum Zusammenhalt: Während Marina, gestresste Immobilienmaklerin und überforderte Familienmanagerin, ihre Nächte mit Nähen zubringt, um Tochter Kristina das Studium zu finanzieren, zieht sich ihr Ehemann, der gescheiterte Musikus Oleg, in Phantastereien zurück. Die Gefühle füreinander sind erkaltet, die Ehe ist nichts als Patina über tiefen Rissen. Umso mehr drängt Marina ihren versoffenen Schwager, die Wände neu zu streichen: Hinter der Fassade ein dunkler Untergrund aus Verzweiflung und Verdruss. Gott hat dieses kaputte Parkett schon längst verlassen. Als Marina dann noch erfährt, dass ihre Tochter Kristina, die stille Protagonistin des Dramas, von der Uni geflogen ist und dubiose Männerbekanntschaften haben soll, kommt es zum erbitterten Streit: Aus weiter Entfernung brüllen, blöken, reden sie aneinander vorbei. Wenn Marina wutentbrannt beklagt, „immer allein, das ganze Leben allein“ zu sein, trifft das auf die meisten von Jablonskajas traurigen Helden zu: Einsamkeit und Ohnmacht prägen ihr Dasein.
Als die Autorin im Januar 2011 eine Fehlgeburt erleidet, ist sie an jenem existenziellen Tiefpunkt angelangt, der schon zuvor in ihren Werken sichtbar geworden war. Da stellt sich die Frage nach Glauben und Sinn, nach dem Göttlichen. Eine Mischung aus nietzscheanischem Nihilismus’, Gogols grotesken Zerrwelten und dem anklagenden Radikalismus einer Sarah Kane durchzieht Jablonskajas fast zwanzig Theaterstücke: Stets versuchen sie die Balance aus Fragilität und Provokation, aus Hoffnung und Untergangsgewissheit zu halten. Richtig in Fahrt kommt das Kabinett der Gottlosen in Heiden daher erst, als unvermutet die missionarische Erlöserfigur Großmutter Natalja auftaucht und den Wohnraum zu einer Kirche umfunktioniert. Aus den transzendenzlosen Kippfiguren und Alltagspragmatikern werden gebetshörige Kopfnicker. Tanzt Kristina, gespielt von Katharina Hauter, noch rebellisch mit grüner Pussy-Riot-Maske zu Rockbeats dagegen an, überlagern sakrale Chorgesänge die „Sinnlosigkeit des Weltenfundaments“. Zwar beträufelt „Sankt Senilia“ Natalja alles gewissenhaft mit Weihwasser, doch die Dämonen sind nicht mehr weit. Zu spät nimmt die Familie Anteil am Leiden Kristinas. Liebeskummer treibt sie in einen Suizidversuch, am Krankenbett rasen die Götzenbilder aufeinander zu. Natalja leiert Gebete herunter, und Bootsmann besprüht den Raum mit Schnaps und Zigarettenrauch.
Warum letztlich Kristina wieder erwacht, bleibt ungewiss. Eine Erleuchtung? Wer weiß. In diesem rätselhaften Ende gibt sich eine Poetin des Zerfalls und zugleich des Wundersamen zu erkennen. Ihr Wirken war ein Anschreiben gegen die Weltordnung, die wenigstens ihre Heldin Kristina schließlich zu überwinden vermag. Mannheim erweist Anna Jablonskaja mit „Heiden“ eine würdige Hommage.
(theater:pur in NRW)

Das neue Russland spielt verrückt
Eine Entdeckung! Anna Jablonskajas Familienstück "Heiden" ist einerseits von Ibsen, Strindberg und Hauptmann inspiriert, andererseits spielt es mit symbolischen Untiefen auf die chaotische und von vielen Gefahren bestimmte Situation im Russland von heute an. Durch die Umbrüche in postsozialistischen Zeiten ist dort vieles aus den Fugen geraten, nicht zuletzt die Familienstrukturen. Mannheims Schauspieldirektor Burkhard C. Kosminski unterstreicht das in seiner Inszenierung der Deutschsprachigen Erstaufführung feinfühlig und geschickt.
Die Autorin des Stücks galt als eines der großen Talente des jungen russischen Theaters. Mehrfach mit Preisen ausgezeichnet, kam die 1981 in Odessa geborene Dramatikerin vor eineinhalb Jahren bei einem Terroranschlag auf dem Moskauer Flughafen Domodedowo ums Leben. Sie war gerade unterwegs zu einer Preisverleihung für "Heiden". Der Titel ihres Stücks steckt natürlich voller Ironie, denn Heiden sind ihre entwurzelten Figuren mal mehr, mal weniger. Die Sinnsuche beschäftigt sie trotzdem permanent, so oder so. Außerdem hat der alltägliche Kampf ums Geld die Familie, von der in "Heiden" erzählt wird, in einem mächtigen Strudel nach unten gerissen. Der Musiker-Vater wurschtelt sich tagträumerisch durch die Malaise, die Mutter sorgt als Immobilien-Maklerin nur mit Ach und Krach für ein paar Rubelchen in der Haushaltskasse, und die Tochter Kristina hat ihre religionswissenschaftlichen Studien an den Nagel gehängt, um sich bei neureichen Kerlen zu prostituieren. Anke Schubert spielt die Partie der Mutter Marina. Als Kämpfernatur erinnert sie ein wenig an Gerhart Hauptmanns Mutter Wolffen im "Biberpelz", allerdings ohne deren Hang zu kleinkriminellen Diebstählen. Der Figur des Vaters gibt Reinhard Malberg schöne Schattierungen zwischen Komik und Melancholie. Und Katharina Hauter ist als Kristina ein zutiefst verletzliches Wesen, das sich hinter einem Panzer aus Coolness und einem rotzig-vulgären Jargon versteckt. Einmal trägt sie sogar eine Kapuze wie die Sängerinnen der in Russland inhaftierten Punkrock-Band Pussy Riots. Ihre provokanten Sprüche kontrastieren aufs Schönste mit dem salbungsvollen Predigerton der nach jahrelanger Abwesenheit plötzlich zur Familie zurückgekehrten Großmutter. Halb Betschwester, halb die Verkörperung des Mütterchens Russland, bringt die von Gabriela Badura gespielte Alte ihre ganze Mischpoke auf Trab. In klösterliches Schwarz gehüllt (Kostüme: Lydia Kirchleitner), versucht sie, die abtrünnigen Familienmitglieder zu missionieren.
Nach einer dreijährigen Krankheitspause ist die große Mannheimer Schauspielerin mit dieser Rolle endlich wieder auf die Bühne des Nationaltheaters zurückgekehrt. Das Premierenpublikum begrüßte sie gleich bei ihrem ersten Auftritt mit Sonderapplaus. Tiefer Glaube kann Wunder bewirken, so die Überzeugung der Großmutter. Und für kurze Zeit scheint die religiöse Erweckung sogar zu funktionieren. Mutter Marina verdient bei einem Immobilien-Deal mit einem Kirchenmann ein hübsches Sümmchen, Vater Oleg findet einen festen Job als Lagerverwalter, und Kristina steht kurz davor, sich taufen zu lassen, obwohl sie bisher immer behauptet hat, Agnostikerin zu sein. Großmütterchen weiß eben, wie sie den Sohn, die Schwiegertochter und die Enkelin in diesem an Verrücktheit leidenden Russland ins Gebet zu nehmen hat. Ihre "Kirche" ist dabei eine Wohnung von wirkungsvoller Schlichtheit, die vom Bühnenbildner Florian Etti gestaltet wurde Also alles im Lot? Von wegen! Eine russische Familie von heute ist ständigen Gefährdungen ausgesetzt, sei es durch einen Selbstmord (vor dem Kristina auf wundersame Weise gerade noch gerettet wird) oder durch dubiose Kirchenvertreter, die im großen Stil mit Schmuggelware handeln. Letztlich kann sich nur retten, wer sich voller Selbstbewusstsein wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht. Anna Jablonskajas Stück zeigt das auf eindringliche Weise.
(Rhein-Neckar-Zeitung)

Weltenaufprall
Geglückter Saisonstart an den Theatern Heidelberg, Mannheim und Karlsruhe mit Stücken von Berkun Oya, Anna Jablonskaja und Falk Richter Hoch im Norden von Baden-Württemberg lohnt die diesjährige Saisoneröffnung schon deshalb einen genaueren Blick, weil die drei großen Theater der Region einem kulturpolitischen Wandel entgegensehen. In Heidelberg weiht Intendant Holger Schultze im November den Neubau des Theaters ein – das Haus wird sich dann neu positionieren müssen, weil mehr und bessere Spielstätten zur Verfügung stehen, nicht aber die entsprechende personelle und finanzielle Ausstattung. Die Karten werden wie am benachbarten Mannheimer Nationaltheater neu gemischt. Dort gibt es, nachdem Generalintendantin Regula Gerber Anfang des Jahres aus gesundheitlichen Gründen zurücktrat, künftig eine paritätische Leitung nach dem Stuttgarter Modell. Für die Spartenchefs bedeutet das mehr Arbeit und Verantwortung, während das Schauspiel sich gleichzeitig auf das Großereignis „Theater der Welt“ im Jahr 2014 vorbereitet.
In Mannheim wartete Schauspielchef Burkhard C. Kosminski mit einer deutschen Erstaufführung auf, die unter anderem auch von der Tragik eines Künstlerlebens in den heutigen GUS-Staaten erzählt: Heiden ist eines der letzten Stücke der ukrainischen Autorin Anna Jablonskaja. Sie stieg Anfang 2011 zum Empfang eines Preises für eben dieses Stück in den Flieger und wurde auf dem Moskauer Flughafen Opfer eines Terroranschlages. Das Stück will böse sein, versteckt sich aber etwas hinter der komischen Mechanik permanenter Umschwünge. Zieht man das in Betracht, ist Burkhard C. Kosminski eine schön zugespitzte Inszenierung gelungen – mit einer Katharina Hauter als Kristina, deren Rasierklingenexistenz höchste Verletzungsgefahr verspricht. (Süddeutsche Zeitung)

An irgendwas muss man doch glauben
Burkhard C. Kosminski inszeniert das ukrainische Drama im Mannheimer Nationaltheater Das Nationaltheater Mannheim zeigt das Stück „Heiden“ über Menschen in der Ukraine zwischen säkularem Chaos und orthodoxer Ordnung. Regisseur Burkhard C. Kosminski inszeniert durchaus sehenswert ein Familiendrama, das uns fern bleibt. (Darmstädter Echo)

Auch Gott kann da nicht helfe
Der Mannheimer Schauspieldirektor Burkhard C. Kosminski hat das Stück fürs deutsche Theater entdeckt und nach langen Bemühungen nun auf die Bühne gebracht. Er setzt damit eine Reihe von deutschsprachigen Erstaufführungen fort, die dem Nationaltheater mit Stücken von Tracy Letts und Tony Kushner in den vergangenen Jahren viel Aufmerksamkeit gebracht haben. Kosminski hat das Stück, wie er das bei neuen Theatertexten meistens tut, sehr behutsam, psychologisch genau und ohne Regiemätzchen inszeniert.
(Die Rheinpfalz)