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Richard Wagner

Tannhäuser

Musikalische Leitung: Axel Kober
Inszenierung: Burkhard C. Kosminski
Bühne: Florian Etti
Kostüm: Ute Lindenberg
Licht: Volker Weinhart
Choreografie: Jean Laurent Sasportes, Pascal Merighi
Chorleitung: Gerhard Michalski
Dramaturgie: Anne do Paço


Premiere am 4. Mai 2013

Deutsche Oper am Rhein, Düsseldorf

Besetzung:
Landgraf: Thorsten Grümbel
Tannhäuser: Daniel Frank
Wolfram von Eschenbach: Markus Eiche
Walther von der Vogelweide: Corby Welch
Biterolf: Thomas Jesatko
Heinrich der Schreiber: Johannes Preißinger
Reinmar von Zweter: Timo Riihonen
Elisabeth: Elisabet Strid
Venus: Elena Zhidkova
Ein junger Hirt: Svenja Lehmann
Erster Edelknabe: Sandra Michaela Diehl
Zweiter Edelknabe: Helena Günther
Dritter Edelknabe: Angela Froemer
Vierter Edelknabe: Franziska Walter
Chor: Chor der Deutschen Oper am Rhein
Orchester: Düsseldorfer Symphoniker

 

 

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> Interviews zu „Tannhäuser“ :

aus dem Programmheft:
Die Geister der Vergangenheit
Burkhard C. Kosminski und Florian Etti über ihre Inszenierung des „Tannhäuser“ im Gespräch mit Anne do Paço
Anne do Paço: „Tannhäuser“ ist Deine erste Operninszenierung und erste Auseinandersetzung mit dem Schaffen Richard Wagners. Was hat Dich bewegt, zu dieser Arbeit „Ja“ zu sagen?
Burkhard C. Kosminski: Zu so einem Angebot kann man einfach nicht „Nein“ sagen. Zum einen bedeutet mir die Arbeit in Düsseldorf ein Zurückkommen an einen alten Ort des Schaffens, dem ich mich immer noch sehr verbunden fühle. Darüber hinaus kenne ich Axel Kober aber auch schon sehr lange und schätze ihn sehr. Christoph Meyer hat sich einige Inszenierungen von mir am Nationaltheater Mannheim angeschaut und mich dann für diese Produktion angefragt. Ich habe großen Respekt vor dieser Aufgabe. Doch Richard Wagners Stücke lassen viel Interpretationsspielraum für klare konzeptionelle Setzungen, die erlauben, einen eigenen Blick auf die Figuren zu werfen. Das ist für mich ein besonderer Reiz. Natürlich muss man sich auf die Bedingungen einer Oper einlassen. Während im Schauspiel der Text die Freiheit lässt, jeden Moment individuell anzulegen, eine Haltung zu ihm zu finden, liefert hier die Musik den Rhythmus und die zeitliche Ausdehnung der Szenen. Man kann das, was die Musik vorgibt nutzen – oder ihr bewusst etwas entgegensetzen, was wiederum zu einem schönen Kontrast führt. Eine neue Erfahrung war für mich aber auch, dass die Sängerinnen und Sänger zum Probenanfang alle Partien studiert und teils auch in anderen Produktionen bereits gesungen haben. Während ein Schauspieler oft erst beim Entwickeln einer Figur den Text mitlernt, konnte ich mich bei den „Tannhäuser“-Proben von Anfang an auf ganz andere Dinge konzentrieren, auf einem höheren Level einsteigen. Alle Beteiligten gingen mit einer wunderbaren Neugier und Offenheit an die Proben heran und hatten große Lust, für die Figuren eine eigene, neue Lesart zu finden und eine vielschichtige Psychologie zu entwickeln.
Anne do Paço: Dein Partner für die Bühne ist Florian Etti – ein Bühnenbildner, mit dem Du schon lange zusammen arbeitest…
Burkhard C. Kosminski: Florian Etti ist ein kluger Kopf, ein guter Freund und für mich seit Jahren der wichtigste künstlerische Partner. Wir sind völlig unterschiedliche Persönlichkeiten – und dieser Gegensatz zieht sich an. Er weiß genau, wie ich inszeniere und liefert mir bei jeder neuen Arbeit mit verschiedenen Modellen unterschiedlichste Möglichkeiten für die Gestaltung des Raumes. In einem gemeinsamen Schaffensprozess nähern wir uns der Arbeit quasi Schritt für Schritt an. Durch die langjährige Zusammenarbeit gibt es aber auch etwas Unausgesprochenes zwischen uns – oft weiß Florian schon im Vorfeld, was ich brauche und agiert entsprechend. Zugleich schaffen seine Räume aber auch immer eine Reibung, die mich in meinen Inszenierungen herausfordert. Es sind Räume, die mich in eine gewisse Richtung schieben, denen ich aber auch etwas ganz anderes entgegensetzen kann.
Florian Etti: Was ich an Burkhards Arbeiten schätze, ist ihre präzise Psychologie. Seine Figuren sind sehr plastisch und eröffnen vielschichtige Assoziationsräume – eine ganz eigene Form von psychologischer Architektur, die sich mit entgegen stellt und die ich nicht bebildern muss. Wenn ich mir Fotos unserer Inszenierungen anschaue, fällt mir auf, dass meine Räume selten gut fotografiert sind. Das Erlebnis des Raumes, der Architektur funktioniert über einen Umweg. Es gibt kein „Ist-gleich-Zeichen“.
Anne do Paço: Wagner hat sich verschiedene mittelalterliche Stoffkreise – den von Tannhäuser und Venus, den von einem Sängerwettstreit auf der Wartburg und die Legenden über das Leben der Heiligen Elisabeth von Thüringen – anverwandelt, um daraus eine eigene, romantische Oper über die Themen reine und sinnliche Liebe, Schuld und den Versuch ihre Sühne am Beispiel einer Außenseiter-Figur zu machen…
Burkhard C. Kosminski: …für mich wirft der „Tannhäuser“ zwei Kernfragen auf, für die ich als Regisseur eine überzeugende Antwort finden muss: 1. Für was steht die Venuswelt? 2. Welches Verbrechen muss ein Mensch in einer modernen Gesellschaft begehen, das ihn zwingt, vom Papst Vergebung zu erflehen? Diese beiden Fragen berühren zwei große archaische Themen. Bei Wagner versündigt sich Tannhäuser, indem er Venus liebt. Dabei geht es um einen Hedonismus, der heute jedoch kaum mehr etwas Verwerfliches an sich hat, nicht mehr der Skandal ist, der zu einem Ausschluss aus der Gesellschaft führt, wie er Tannhäuser im 2. Akt der Oper widerfährt. Mich interessiert daher vielmehr das große Thema der Schuld. „Ein schreckliches Verbrechen ward begannen“, heißt es im 2. Akt. Wieso sollte man also Tannhäuser nicht zu einem echten Täter machen, der tatsächlich etwas Schreckliches getan hat: zu einem Kriegsverbrecher?
Die Frage, wie man mit Tätern und Opfern umgeht und aus einer Welt des Schreckens heraus eine neue Ordnung konstituiert, in der jeder auch mit seiner eigenen Vergangenheit umgehen und weiterleben muss, aber auch die Tatsache, dass Wagner den „Tannhäuser“ selbst als einen deutschen Stoff gedacht hat, brachten mich dazu, die Handlung während des Naziregimes der 1940er Jahre und der Entstehung der neuen Bundesrepublik unter Konrad Adenauer anzusiedeln.
Florian Etti: Wenn man das Drama liest, kristallisieren sich zwei unterschiedliche Lebensprinzipien heraus, ein Dualismus, dessen Pole sehr logisch miteinander verwoben sind. Als Burkhard mir seine Sichtweise erläuterte, wurde schnell klar, dass es darum gehen musste, die Schuldfrage mit der dionysischen Figur der Venus und der apollinischen Figur der Elisabeth zusammenzubringen. Das Dionysische galt es also nicht als Bacchantisches zu begreifen, sondern als eine totale Entgrenzung, als zutiefst dunkle Seite, die jedoch auch eine sinnliche Verführungskraft hat – eine Verquickung von Eros und Gewalt, Sex und Blut. Auf der anderen Seite die Welt, in der Elisabeth lebt – architektonisch klar strukturiert, gläsern. Ich musste an ein Kanzleramt denken, aber auch an die Glaspaläste der Banken in Frankfurt und New York mit ihren glatten, spiegelnden, das Außen reflektierenden Fassaden, hinter denen sich jedoch eine ungeheure Geschichte verbirgt. Die entgrenzte Welt der Venus hat bei uns eine warme, weiche Atmosphäre, ist offen und anarchisch, während die Wartburgwelt durch eine klare Architektur bestimmt wird. Das Material, mit dem ich gearbeitet habe, ist beides: weich, durchsichtig und fragil, aber auch hart, spiegelnd und glänzend – und hat sich aus dem Gegensatz von Dionysisch und Apollinisch heraus entwickelt.
Anne do Paço: Du erzählst die Geschichte Tannhäusers als Albtraum – einen Albtraum deutscher Geschichte, aber auch als eine Hölle der menschlichen Beziehungen, in der es letztlich für keine der Figuren – nicht für Tannhäuser, aber auch nicht für Venus, Elisabeth und Wolfram – die Chance auf eine Zukunft gibt. Um uns mit hinein in Tannhäusers Erinnerungsräume zu nehmen, hast du eine zusätzliche Spielebene in die Inszenierung eingezogen…
Burkhard C. Kosminski: …die Partitur des „Tannhäuser“ ist noch nicht von jener Dichte, wie seine späteren Musikdramen. Hier gibt es noch in sich geschlossene Nummern, zwischen denen Zäsuren stehen – und es finden sich immer wieder Generalpausen, in denen Wagner bewusst seine Musik anhält. Wenn unter einer solchen Generalpause auch noch der Vermerk „lange Pause“ steht, dann reizt mich dies als Regisseur natürlich, die Musik auch einmal anzuhalten und eine konkrete Spielsituation einzuschieben, in welcher die Albträume Tannhäusers in seiner subjektiven Sichtweise in das Stück hineinragen. Dabei waren die Fragen für mich zentral: „Wie funktioniert Erinnerung? Wie funktionieren Träume?“ Indem ich Geschichte aus der Innenperspektive Tannhäusers erzähle, kann ich mit den Strukturen von Raum und Zeit freier umgehen, verschiedene Realitätsebenen nach der Logik des Traums sich überlappen lassen. Erinnerungsfetzen oder Momente, die Tannhäuser wie in einem Albtraum verfolgen, kehren über den Abend hinweg wieder. Sie schieben sich wie eine Folie zwischen Tannhäuser und die Welt. Immer wieder fallen die Geister der Vergangenheit über ihn her.
Anne do Paço: Die beiden Frauen zwischen denen Tannhäuser steht, könnten unterschiedlicher nicht sein, sind zugleich aber auch so etwas wie zwei Seiten einer Medaille. Vorbilder waren Wagner für Venus und Elisabeth die alten Allegorien über das Thema der irdischen und der himmlischen, der sinnlichen und der reinen Liebe, die er selbst aber natürlich mit Fleisch und Blut füllte…
Burkhard C. Kosminski: …Venus und ihre Welt sind bei Wagner der Gegenpol einer verbürgerlichten Gesellschaft. Oft wird der Venusberg als ein Bordell dargestellt, doch kennt die Figur der Venus – wie Florian schon betonte – gerade in der Romantik, die ja auch ihre schwarzen Seiten hat, noch viel dunklere, wirklich gefährliche Facetten. Tannhäuser ist ein Außenseiter. Die Gesellschaft drängt ihn an den Rand, um ihn dann zu verstoßen. Ausgegrenzte, denen man keinen Raum mehr in der Gesellschaft lässt, neigen zur Radikalisierung. Das Risiko, dass ein solcher Mensch kriminell wird, ist sehr hoch. Dass es meist Randgruppen sind, die der Gefahr der Verführung durch Extremismus besonders ausgesetzt sind, erleben wir täglich. Die Verführung der Venus ist in meiner Inszenierung eine Verführung zum Faschismus.
Bei Elisabeth war es mir sehr wichtig, die Geschichte einer modernen Frau zu erzählen, die in einem letztlich für sie tödlichen Beziehungsdreieck steht, wird sie doch von zwei Männern – von Tannhäuser und Wolfram – geliebt. Die Liebe kann so ungerecht sein. Diese Härte möchte ich zeigen. Wie Venus verliert auch Elisabeth immer wieder die Mitte: Während Tannhäusers Abwesenheit zieht sie sich völlig von der Welt zurück, kapselt sich ab. Und während Tannhäusers Pilgerfahrt wendet sie sich auf fast schon fanatische Weise dem Glauben zu und bringt sich – da Tannhäuser nicht unter den zurückgekehrten Pilgern ist – schließlich um. Aus der Perspektive des christlichen Glaubens ist dieser Selbstmord eine Todsünde; der Leichnam eines Selbstmörders darf nicht in geheiligter Erde begraben werden, weshalb der Landgraf die tote Elisabeth verbrennt, um ihr Verbrechen zu bannen, so dass sie schlussendlich von der Gesellschaft doch zur Heiligen erhoben werden kann.
Florian Etti: Als christliches Symbol des Opfertods, der Erlösung hat sich während der Arbeit an meinem Bühnenentwurf des Kreuz aus meiner Architektur herausgeschält. Im 3. Akt steht es zerbrochen da - auf der einen Seite dekoriert mit dem Bundesadler, auf der anderen mit dem Reichsadler -, als Bild dafür, dass Erlösung nicht möglich ist, sondern Tannhäuser von seiner Schuld immer wieder eingeholt wird…Tannhäuser als eine Art Zombie, Wagner als Ahasver, als ewiger Jude – was für ein tragischer „Joke“. Es bleibt eine Form der Unerlöstheit, aus der auch mein Raumentwurf entstanden ist.
Anne do Paço: Ein weiteres Beziehungs-Dreieck spannt sich zwischen Tannhäuser, Elisabeth und Wolfram, der Elisabeth ebenfalls liebt, auf. Was bestimmt Wolframs Handeln, das letztendlich auch ein Handeln gegen seine eigenen Gefühle ist?
Burkhard C. Kosminski: Für mich ist Wolfram eine sehr interessante Figur, die aber viel zu oft auf den Bühnen eher blutleer daherkommt. Wolfram ist für Elisabeth die bessere Lösung. Er ist ihr Freund, hat sie – als das plötzliche Verschwinden Tannhäusers sie in eine tiefe Depression stürzte – unterstützt und gehofft, dass sie sich ihm zuwendet. Doch Wolfram ist einer, der nicht offensiv genug wirbt.
Anne do Paço: Als Tannhäuser im 1. Akt zurückkommt, ist es Wolfram, der ihn mit der Erwähnung Elisabeths dazu bringt, in die Wartburg zurückzukehren. Wieso tut er das?
Burkhard C. Kosminski: Das habe ich mich auch gefragt – und mir dann vorgestellt, dass er vielleicht hofft, die erneute Begegnung nach so langer Zeit könnte für Elisabeth wie die Begegnung mit einem Gespenst sein, das an ihre vergangene Liebe nur noch flüchtig erinnert, so dass der Weg für ihn selbst frei wird. Doch er hat sich geirrt. Wenn Tannhäuser erscheint, ist Elisabeth plötzlich mitten im Leben, sie ist glücklich, die liebe blüht wieder auf, während es Wolfram vor Schmerz fast zerreißt.
Florian Etti: Tannhäuser, ist ja einer „der im Winter in den Tannen haust“, also in den Wäldern, um nur im Frühjahr herauszukommen. Seine Beziehung zu Elisabeth ist für mich wie eine „Lonesome Rider“ – Liebe: Er kommt immer mal wieder bei ihr vorbei, ist der Abenteurer, schnappt sich das Sahnehäubchen, ohne den täglichen Terror. Dadurch, dass er sich rar macht, wie ein Fluidum nicht fassbar und auch nicht installierbar ist, hat er eine unglaubliche sexuelle Anziehungskraft. Wolfram ist hingegen vollkommen in dieses Leben, in diese Welt eingegliedert und deshalb zwangsweise uninteressant, obwohl er tatsächlich für eine reale Struktur viel wichtiger ist.
Burkhard C. Kosminski: Eigentlich würde Wolfram viel besser zu Elisabeth passen, aber Tannhäuser ist der interessantere Mann. In der Vorgeschichte zu unserer Geschichte ist er ein Mensch, der sich zu etwas hat verführen lassen, was er eigentlich gar nicht wollte. In dieser Hinsicht steht er alleine da, denn andere machen ebenfalls mit und kehren es hinterher einfach unter den Teppich, leugnen und verdränge ihre Schuld und sagen sich: „Das Leben geht weiter“. Tannhäuser ist der einzige, der damit umgeht und schließlich wirklich aus seinem tiefsten Inneren heraus Vergebung sucht.
Anne do Paço: Neben den individuell gezeichneten Sängern spielt der Chor eine wichtige Rolle in diesem Stück…
Burkhard C. Kosminski: In der Wartburg – in der sich in Wagners Komposition übrigens durchaus auch äußerst humorvolle Momente finden – und in der Schlussszene der Oper repräsentiert der Chor in meiner Inszenierung die neue Gesellschaft der 1950er Jahre, in welcher Menschen, die tatsächlich für eine Form von Aufbruch stehen, auf solche treffen, die keine saubere Vergangenheit haben. Eine sehr aufregende Zeit, kurz vor dem Wirtschaftswunder, geprägt von den Gefühlen eines Neuanfangs und der Sehnsucht, endlich wieder leben zu dürfen. Die Pilgerchöre im 1. und 3. Akt sind für mich dagegen weniger konkret, Teil von Tannhäusers Erinnerungswelten – im 3. Akt wie ein Wald, in dessen Labyrinth aus Bäumen sich Wolfram und Elisabeth verirren.
Anne do Paço: Tannhäuser wird von der Gesellschaft zum Außenseiter gemacht – und als solcher schließlich von ihr verstoßen. Auch der Papst als Vertreter Gottes auf Erden, kennt keine Gnade. Umso irritierender ist der Moment, in dem berichtet wird, dass der Stab des Papstes – entgegen aller Prophezeiungen – doch noch mal zu grünen beginnt. Hier lässt Wagner plötzlich die Stimme Gottes direkt zu uns sprechen und setzt damit alle bisherige Ordnung außer Kraft. Es ist der Moment des Verzeihens, der hier ganz groß wird – und der auch in Deiner Inszenierung eine zentrale Rolle spielt.
Burkhard C. Kosminski: Vergebung kann letztendlich immer nur vom Opfer ausgehen. Für mich ist der Hirte das Bild eines solchen Opfers, das in Tannhäusers Erinnerungsräumen immer wieder aus den Tränen und dem Blut aufersteht. Es ist nicht der Stab des Papstes, der in meiner Inszenierung zu grünen beginnt, sondern – in einer von Tannhäusers Albtraumschleifen – ein blühender Zweig, den ihm der Hirte überreicht. Doch Elisabeth ist tot und in die Wartburggesellschaft gibt es kein Zurück mehr. Tannhäuser entscheidet sich für Venus. Er zieht mit ihr. Wolfram reißt es den Boden unter den Füßen weg. Er kann dies alles nicht mehr ertragen, nicht mehr mitansehen…


Zensur von Kunst
Regisseur Burkhard C. Kosminski, 51, über die Absetzung seiner "Tannhäuser"-Inszenierung in Düsseldorf aufgrund von Zuschauerprotesten während und nach der Premiere

SPIEGEL: Herr Kosminski, in Ihrem Operndebüt mit dem "Tannhäuser" des Antisemiten Richard Wagner gibt es eine Szene mit Sterbenden, die aus einer Gaskammer taumeln. Was war Ihre dramaturgische Idee?

Kosminski: In Wagners Oper versündigt sich der sterbliche Tannhäuser, indem er die göttliche Venus liebt. Das lässt sich heute nicht mehr als Skandal erzählen, der zu einem Ausschluss aus der Gesellschaft führt. Mich interessiert das große archaische Thema der Schuld. Wieso sollte man also Tannhäuser nicht zu einem Täter machen, zu einem Kriegsverbrecher? In meiner Inszenierung wird Tannhäuser von Mitgliedern der Wehrmacht gezwungen, eine Familie zu erschießen. Der Abend beschäftigt sich mit individueller Schuld im Nationalsozialismus und während der Entstehung der BRD.

SPIEGEL: Wie haben Sie die Proteste bei der Premiere erlebt?

Kosminski: Es gab Zwischenrufe während der Aufführung. Als ich mich beim Applaus verbeugte, gab es ein Buhkonzert, gemischt mit vielen Bravos. Bei der Premierenfeier wurde ich massiv beleidigt.

SPIEGEL: Nach der Premiere hat auch die Jüdische Gemeinde protestiert - macht das den Fall besonders prekär?

Kosminski: Natürlich bin ich da erschrocken.

SPIEGEL: Michael Szentei-Heise von der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf kritisierte die Aufführung als geschmacklos.

Kosminski: Ob er sie selbst gesehen hat, ist unklar. Sehr gern würde ich mich mit ihm unterhalten. Eine Absetzung hat die Jüdische Gemeinde aber nicht verlangt. Meine Inszenierung verhöhnt Opfer nicht, sondern beklagt sie.

SPIEGEL: Der Düsseldorfer Opernchef Christoph Meyer hat Ihre Inszenierung vor der zweiten Aufführung gekippt, weil Sie sie nicht umarbeiten wollten. Warum haben Sie sich geweigert?

Kosminski: Ich habe zehn Monate vor der Premiere der gesamten künstlerischen Leitung mein Konzept vorgelegt. Allen Beteiligten war bewusst, dass wir auf einen Abend voller Kontroversen zusteuern. In den Endproben bat man mich, die Erschießungsszene etwas zu kürzen, was ich gemacht habe. Warum sollte ich hinterher Szenen herausnehmen oder im Dunklen spielen lassen? Warum das Konzept ändern?

SPIEGEL: Ist Ihr Verhältnis zum Düsseldorfer Opernchef jetzt zerrüttet?

Kosminski: Nein, aber ich bin schockiert und sprachlos und kann seine Entscheidung nicht nachvollziehen. Wir wurden beide massiv unter Druck gesetzt, durch die lokale Presse und die besserwisserische Ignoranz von Menschen, von denen die meisten die Aufführung nicht kennen. Was in Düsseldorf passiert ist, ist die Zensur von Kunst. Das ist der eigentliche Skandal.
(Interview in Der Spiegel, 20/2013)

„Ich bin vollkommen geschockt“?
Das Interview: Burkhard C. Kosminski über das Absetzen seiner „Tannhäuser“-Inszenierung in Düsseldorf und über Freiheit

Das Unfassbare ist geschehen: Seit gestern spielt die Deutsche Oper in Düsseldorf den von Burkhard C. Kosminski inszenierten "Tannhäuser" aufgrund von Protesten nur noch konzertant. Ähnliches gab es zuletzt 2003, als Hans Neuenfels an der Deutschen Oper Berlin in der Mozart-Oper "Idomeneo" die abgeschlagenen Köpfe von Poseidon, Jesus, Buddha und Mohammed auf Säulen präsentierte - unter heftigen Tumulten. Auch in Düsseldorf gab es am Samstag Tumulte. Mannheims Schauspielintendant Kosminski ist schockiert - ein Austausch über die Vorfälle und die Freiheit der Kunst.

Herr Kosminski, Ihre bei vielen Menschen und der Jüdischen Gemeinde umstrittene, mittlerweile als "Nazi-Tannhäuser" fungierende Inszenierung ist von der Deutschen Oper abgesetzt worden. Gestern ging das Werk konzertant über die Bühne. Wie fühlen Sie sich?  

Burkhard?C.?Kosminski: Ich bin vollkommen geschockt - vor allen Dingen über die Begründung. Es kann doch nicht sein, dass diese Art von Zensur stattfindet. Mein Wunsch an den Intendanten Christoph Meyer war es, in eine sachliche Diskussion einzusteigen und dadurch die in beide Richtungen aufgebrachten Gemüter zu beruhigen. Mein Vorschlag, eine Podiumsdiskussion anzubieten, wurde nicht gehört. Da wurde meiner Meinung nach eine große Chance verpasst, konstruktiv zu diskutieren. Nach der Absetzung habe ich daran kein Interesse mehr.

Was ist denn die Begründung?    

Kosminski: Na ja, man reagiert offenbar darauf, dass einige Szenen, insbesondere die Erschießungsszene, für zahlreiche Besucher sowohl psychisch als auch physisch zu einer starken Belastung geführt haben soll. Offenbar haben sich Besucher im Anschluss in ärztliche Behandlung begeben. Eine solch extreme Wirkung will die Oper nicht.

Nun, viele - auch viele Juden - regen sich natürlich darüber auf, dass Sie den Nationalsozialismus und Holocaust thematisieren. Haben Sie mit dieser Vehemenz an Protest wirklich nicht gerechnet?

Burkhard C. Kosminski: Nein, das alles überrascht mich sehr. Ich möchte hier klarstellen, dass ich in keinem Moment die furchtbaren Verbrechen des Nationalsozialismus als Selbstzweck oder billiges Mittel, einen Skandal zu provozieren, benutzt habe. Die umstrittenen Szenen sind Beleg für eine unfassbare Schuld, die in meiner Lesart Tannhäuser begangen hat. Ich will nicht die Opfer verhöhnen. Ich will die Opfer beklagen. Das Kernthema sind Schuld und Erlösung. Das wirft die Frage auf: Was hat Tannhäuser getan, dass er aus der Gesellschaft ausgestoßen wird? Die jüdische Gemeinde hat ja klargestellt, dass Wagner Antisemit war, aber kein Nazi. Eine Absetzung wurde übrigens gar nicht gefordert.

Aber Sie wurden gefragt, ob Sie die heikelsten Stellen streichen. Warum wollten Sie das nicht?

Kosminski: Wenn ich mich intensiv mit einem Stoff beschäftige, kann ich doch nicht einfach sagen: Das lassen wir jetzt weg. Hätte man diese Veränderungen vorgenommen, dann hätte das keinen Sinn mehr gemacht. Vor zehn Monaten habe ich der künstlerischen Leitung mein "Tannhäuser"-Konzept vorgestellt. Allen Beteiligten war klar, dass diese Inszenierung eine Kontroverse auslösen wird. Mit einem Skandal hat keiner gerechnet. Schon damals war diese Szene besprochen. In den letzten Tagen wurde ein immenser Druck gegen mich, aber sicherlich auch gegen Intendant Christoph Meyer aufgebaut.

Zweifeln Sie nun an der Freiheit der Kunst und Ihrer Freiheit als Regisseur? Werden die Geschehnisse auf künftige Arbeiten Einfluss haben?

Kosminski: Welchen Einfluss diese Arbeit hat, kann ich nicht sagen. Es stellt sich aber natürlich die Frage: Was darf Kunst?

Sind Sie bedroht worden?

Kosminski: Soweit ging es nicht. Mir wurden Mails geschickt, in denen man mich beleidigte. Es wurde auch der Versuch unternommen, mich einzuschüchtern. Manchmal habe ich das Gefühl, in ein Wespennest gestochen zu haben. Interessant wäre für mich zu wissen, was sich da eigentlich entlädt. Es gab ja auch viele Premieren-Besucher, die begeistert waren. An diesem Abend waren die Reaktionen sehr emotional in beide Richtungen. Das war für mich eine neue und wichtige Erfahrung.

Am NTM waren Sie bislang gar nicht als Provokateur aufgefallen. Hat Sie die Gattung zu extremen Darstellungen provoziert?

Kosminski: Ich beschäftige mich mit dem Inhalt des Stoffes. Bei Uraufführungen gilt es, das Stück zu präsentieren. Da nehme ich mich zurück. Bei Klassikern muss ich aber eine Interpretation finden. Da will ich mit einem klaren Konzept arbeiten und die Kernfragen des Plots beantworten. Die Partitur des "Tannhäuser" ist nicht so dicht wie Wagners Spätwerk. Hier gibt es in sich geschlossene Nummern - und es finden sich immer wieder Generalpausen, in denen Wagner seine Musik anhält. Wenn unter einer solchen Pause auch noch der Vermerk "lange Pause" steht, dann reizt mich das, die Musik auch einmal anzuhalten und eine Spielszene einzuschieben. Aber all das kommt aus dem Inhalt der Vorlage.
(Interview von Stefan M. Dettlinger in Mannheimer Morgen, 10.05.2013)

 

> Kritiken „Tannhäuser“ :

TANNHÄUSER
Der Sängerkrieg findet im Opernhaus statt

Das saß und traf ins Mark eines saturierten und gestern ganz auf wohltimbrierten Genuss eingestellten holden bis dato noch gutgelaunten Premierenpublikums.

Starker Tobak!

Ich erinnere mich nur an wenige Abende in den letzten 40 Jahren, die so aufregend waren und an denen sich das Publikum dermaßen empört spaltete. Bei Zimmermanns "Soldaten" (1968) hielten sich am Ende, vor allem bei den Abo-Aufführungen, Zuschauer und darstellende Künstler die Waage; öfter zählte ich mehr Darsteller als Besucher. Viel später in den 80-ern blieb mir Krämers "MacBeth" als Antikriegs-Oper noch in Erinnerung; mit landenden Kampfhubschraubern mitten im Wahnsinn eines Dschungel-Krieges. Oder seine kongenialen "Gezeichneten", wo sich das Düsseldorfer Publikum und die vor der Oper demonstrieren Tierschützer mehr über die friedlich auf der Bühne schwimmenden Zwergschwäne aufregten, als über die Leichenberge nackter Menschen im Finale.

Nun ist es wieder soweit!

Regisseur Burkhard C. Kosminski provoziert mit dem immer noch bis in die Gegenwart reichenden Trauma unserer deutschen Geschichte - von Ralph Giordano auch als "zweite Schuld" benannt - unserer immer noch ungenügenden Vergangenheitsbewältigung.

(…) eine solche Inszenierung [ist] nicht nur nötig, sondern auch wichtig.

So wird der erste Akt, auch mittels der grandios, genialen Darstellerleistung des schwedischen Newcomer und Ex-Rocksänger Daniel Frank zum überzeugenden "Alptraum deutscher Geschichte". In den Wahnträumen Tannhäusers explodiert eine wahre Blutorgie als wären wir in einem Tarantino-Film - gleich eimerweise läuft das Kunstblut die Wände herunter. Kein schöner Opernabend zum anschließenden Champagner-Defilee. Eher ein Theaterabend, der aufrüttelt, schockiert und aufwühlt. Empörte Besucher und Ignoranten verlassen lärmend und demonstrativ türenschlagend den Musentempel. (…)

Der zweite Akt, erkennbar am geänderten Bundesadler, spielt blutlos in der neuen Bundesrepublik: Staatsempfang beim Landesfürsten. Sänger-Concours. Man singt in der heiligen teuren Halle namens Opernhaus - natürlich ins Publikum. Da macht Rampengesang Sinn... Doch am Ende sehen wir, daß die Entnazifizierung doch noch nicht ganz stattgefunden hat, denn manche Minne-Sänger tragen unter ihrem Smoking noch ihre alten Original SS-Reiterhosen. Ute Lichtenberg (Kostüme) muß alle deutschen Nationalarchive geradezu geplündert haben - so echt wirken auch die kompletten Uniformen. Aber, mit Verlaub, was macht der Papst in seinem weisen Ornat in diese Partygesellschaft? Anspielung an die Rattenlinie? Jene von der römischen Kurie nach dem Krieg organisierte Weißwaschung und Verschiffung von Naziverbrechern mittels neuer Rot-Kreuz-Pässe nach Südamerika? Eine intelligente Inszenierung.

War der zweite Akt dann schon wieder pulsberuhigend bis auf die untoten KZ-Insassen, die zombiegleich unseren Minnesänger wohl nach Rom geleitet haben, kommt es im dritten Akt wieder knüppeldick. Wolfram bedrängt die mittlerweile ins Kloster gegangene Elisabeth und vergewaltigt sie, worauf sich Elisabeth die Pulsadern aufschneidet, um allerdings dann im finalen großen Nazi-Staatsbegräbnis als real brennender Engel (…) wieder aufersteht, während Tannhäuser laut schreiend, vor Spalier stehenden Nazigrößen, dem Wahnsinn verfällt.

Dank an Christoph Meyer und Burkhard C. Kosminski für diesen wahrscheinlich international besten und intelligentesten Beitrag zum Wagner-Jahr 2013 - wahrlich eine Großtat!
(Der Opernfreund Düsseldorf, 06.05.2013)

 

Vergeben können nur die Opfer
Musiktheater: Mannheims Schauspielchef Kosminski produziert in Düsseldorf mit NS-„Tannhäuser“ einen spannenden Skandal

Nach 20 Minuten ist es so weit: Das Auditorium probt den Aufstand. Es ruft "Buh", brüllt "Vorhang zu" und übt sich in Fäkalsprache. Auch die Frage, was dies alles mit Kunst zu tun habe, wird lautstark gestellt. Unheil kommt über uns. Menschen gehen. Türen fallen ins Schloss. Ein Theaterskandal. Es ist aber auch einiges passiert. Nackte Frauen und Männer waren zur Ouvertüre unter dem Reichsadler in Glaszellen vergast worden. Ein Mann war mit Hakenkreuzbinde marschiert. Und als Höhepunkt aller Provokation war eine Familie auf die Bretter gezogen, ausgezogen, geschoren und erschossen worden. Dies geschieht zwischen 1. und 2. Szene. Blut rinnt. Grauen dräut. Und das final leuchtende E-Dur der Sirenenmusik ist längst verpufft. Die Ruhe provoziert Protest. Das ist gewollt. Theater will, soll, ja muss aufrütteln. Das gehört zu seinem Wesen.    

Düsseldorf. Deutsche Oper am Rhein. Burkhard C. Kosminski feiert sein Debüt als Opernregisseur. Ein Paukenschlag! Von (Calixto) Bieito bis (Theresia) Walser sind viele seiner Weggefährten dabei. Aber tappt Mannheims Schauspielchef hier gleich in die NS-Falle? Jein! Wagners "Tannhäuser" hat er zwar neu gelesen, umgekrempelt, ja: an den Rand des für Wagner-Freunde Erträglichen manövriert. Doch wie - das hat durchaus Herzschlagpotenzial.

Aus dem "Homo duplex" Tannhäuser, der zwischen sittlicher Zucht und sinnlicher Sucht wandelt, hat er einen "Homo horribilis" gemacht, einen Täter, NS-Kriegsverbrecher, der immer wieder von Erinnerung, Schuld und Horrorvision eingeholt wird - und daran zerbricht. Die Venuswelt, jenes Reich, das er verlässt, um Freiheit zu erlangen, verführt nicht liebestoll; Venus ist eine asexuelle Frau in Uniform (Ute Lindenberg). Kosminski deutet das Dionysische als Rausch nationalsozialistischer Verführung, der er mit der Elisabethwelt die Scheinheiligkeit sich versteckender Täter in der hornbebrillten Adenauer-Ära dualistisch entgegengestellt. Er vertraut also nicht darauf, dass einer, der libidinösen Lieblingsbetätigungen nachgeht, nach Rom pilgern und (beim Papst vergebens) Vergebung suchen wird.

Deswegen ist die Schuld, die auf Tannhäuser lastet, eine viel größere, ja: die kollektive Schuld der und des Deutschen. Unsere Schuld. Deswegen zerbricht Tannhäuser nicht am Zwiespalt zwischen Venus und Elisabeth. Deswegen ist Elisabeth auch nicht die brave Fromme, sondern eine, die ihn beim Wiedersehen in der "teuren" Wartburghalle wild bespringt. Also Jungfrau ist die nicht.

Überzeugende Psychologie

Freilich, nicht alles geht auf. Die Deutung ist eine Verbiegung. Wer festhält an der Sex-kontra-Moral-Polarität, ist verloren. Die Verbindung zwischen Venus und der NS-Zeit ist das Satanische und die ästhetisch-romantische Komponente des Faschismus. Das macht alles nur noch grausamer und lässt die Reinheit der Gegenwelt erst gar nicht zu, obwohl die hochästhetische Bühne Florian Ettis dies gern hätte. Es braucht schon Willen, dem allen so zu folgen.

Richtig überzeugend indes: die psychologische Zeichnung Tannhäusers, Elisabeths und Wolframs. Jeder dieser Drei zerbricht. Tannhäuser an der Schuld, die auch unsere ist, Elisabeth an der Nicht-Vergebung der Schuld, Wolfram an allem und seinem Waschlappen-Ich. All dies zeichnet Kosminski konzentriert und kann dabei auf herausragende Sänger bauen, die vom Mannheimer (und Düsseldorfer GMD) Axel Kober am Pult, von Orchester und Chor meist bestens unterstützt werden. Die Sensation: Daniel Franks Tannhäuser. Der ehemalige Rockstar aus Uppsala lässt bei seinem Deutschlanddebüt die Wagnertenöre vieler Jahre hinter sich. Kraftvoll, gesund, in idealer Mixtur aus weich und kernig strahlt er, mit Farben, Gefühlen, Seelenzuständen, die unter die Haut gehen. Der Mann muss dringend nach Bayreuth! Ex-Mannheimer Markus Eiche (Wolfram mit brillantem Heldenbariton) und NTM-Kraft Thomas Jesatko (Biterolf mit schön bissigem Timbre), Elisabet Strid (makellose Elisabeth mit traumhafter Stimmführung) und Elena Zhidkova (Venus mit Biss) liefern Exzellentes ab.

Vergeben können bei Kosminski nicht Papst oder Kirche, sondern nur die Opfer. Es gehört zu den emotionalen Gipfeln, wenn am Ende der Hirte, der das Kind des erschossenen Paares vom Anfang ist, Tannhäuser zur Vergebung der Sünden einen Blumenstrauß reicht. Des Priesters Stab grünt also wieder. "Dem Sünder in der Hölle Brand soll so Erlösung neu erblüh'n." Elisabeth brennt. Wagner dreht noch ein paar triumphale Friedenskurven in Es-Dur. Der Vorhang fällt. Viel Jubel. Viel Entrüstung. Ein an- und aufregender Abend, der uns lange beschäftigen wird.

(Mannheimer Morgen, 06.05.2013)

 

Schuld und Sühne

Mannheims Schauspielintendant Burkhard C. Kosminski debütiert in Düsseldorf als Opernregisseur – Sein „Tannhäuser“ ist spannend, manchen finden auch skandalös

Mannheimer Familientreffen an der Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf. Aktuelle und ehemalige Ensemblemitglieder, der Ex-Generalmusikdirektor Axel Kober und der gerade erst vom Schauspieldirektor zum Schauspielintendanten beförderte Burkhard C. Kosminski machen aus Wagners „Tannhäuser“ einen aufregenden Opernabend. Kosminskis Regie sorgt dabei für mächtig viel Betrieb. Der Widerspruch war groß, die Aufregung immens. Frischer Wind für den „Tannhäuser“, bei dem es einem mitunter eiskalt wurde. Bei Wagner geht es immer um die letzten Dinge. Darunter macht er es nicht. Schuld und Sühne sind so ein existenzialistisches Thema, das vom „Holländer“ bis zum „Parsifal“ durchdekliniert wurde. Meistens taugt die Frau als Retterin, als Erlöserin, als Entsühnerin. Mannheims Schauspielintendant sieht das anders. Ganz anders. Die finale Erlösung, also das typisch Wagnersche metaphysisch aufgeladene Happy End, bleibt aus. Und die Frau, nun, die hat als Erlöserin dann wohl auch ausgedient. Tannhäuser, der Anti-Held, der Unangepasste, nicht Vermittelbare, nicht zu Integrierende, was hat der eigentlich durchgemacht, erlebt, erlitten, vielmehr noch verbrochen, dass er ausgeschlossen wird von der Gemeinschaft seiner Mitmenschen? Wie übel reicht die Schuld an seinen Fingern, dass ihm niemand mehr die Hand reichen will. Wie viel Blut klebt auch daran? Viel, sehr viel, erzählt uns Kosminski im Bühnenbild von Florian Etti und den Kostümen von Ute Lindberg.

Die Ouvertüre zur Oper wird zur Schocktherapie. Nackte Menschen hinter Glas beobachten einen von schlechten Träumen zerquälten Tannhäuser – ehe sie ins Gas geschickt werden. Wenn später, im zweiten Akt, Elisabeth gegenüber der zur Lynchjustiz bereiten Wartburggesellschaft betont: „Nicht ihr seid die Richter“, dann ist das einer der vielen aufregenden Momente dieser Inszenierung, in dem Kosminski KZ-Häftlinge auf Tannhäuser zumarschieren lässt. Doch wenn nach der Ouvertüre eine Familie auf offener Bühne entkleidet wird, Vater und Mutter kahlgeschoren du erschossen werden, dann scheint eine Grenze erreicht. Der Widerstand im Publikum äußert sich heftig.

Dabei hat Kosminski eigentlich diese Schuldfrage nur einmal ganz ohne Rücksicht gestellt. Er findet den Kriegsverbrecher Tannhäuser – und entdeckt zugleich die Verdrängungsmechanismen der Wartburggesellschaft. Alle haben sie Blut an den Fingern kleben. Der Reichsadler der Venuswelt des ersten Aktes wird durch den Bundesadler auf der Wartburg ersetzt. Die Botschaft ist klar: Es waren die Tannhäusers dieser Republik, die den erfolgreichen Nachkriegsstart ermöglicht haben. Koste es, was es wolle.

Zum Beispiel die Frau: Elisabeth. Die hatte sich in einen smarten Typen verliebt, der offensichtlich einen Pakt mit dem Teufel eingegangen ist. Dieser Teufel heißt Venus. Und hier bewegt sich Kosminskis Regie dann auf dünnem Eis. „Die Verführung durch die Venus ist in meiner Inszenierung eine Verführung zum Faschismus“, erklärt er im Interview des Programmhefts. Und das heißt? Ist es etwa die Frau, deren Sexualität – denn um diese, vielmehr um deren Unterdrückung, geht es Kosminski im gesamten zweiten Akt – die uns Männer zu Massenmördern macht? Seine Fokussierung auf die Schuld der Titelfigur übersieht schlichtweg, dass der Text, viel mehr aber noch die Musik Wagners diese Schuld ganz klar benennen.  Es geht, ganz simpel, um sinnliche Lust. Um Sex. Da hat einer unerlaubt die Liebesgöttin gepoppt, während sich die anderen mit ihren Ehefrauen langweilen.

Dennoch ist Kosminskis Lesart aufregend, erregend, provozierend, und das hängt ganz wesentlich damit zusammen dass er aus Opernfiguren Charaktere macht. Menschen aus Fleisch und Blut. Es ist nachgerade atemberaubend zu sehen, wie der von Daniel Frank, der erst vor zwei Jahren von der Rockmusik ins Opernfach wechselte, großartig gespielte und fantastisch gesungene Tannhäuser unter dieser Schuld regelrecht zerbricht, zugrunde geht. Oder wie der vom früheren Nationaltheater-Ensemblemitglied Markus Eiche gespielte Wolfram langsam begreift, dass er genau wie Tannhäuser und alle andern Blut an den Fingern kleben hat. Er kann das Elend nicht mehr ertragen und sticht sich wie einst Ödipus die Augen aus, während Venus Tannhäuser die Hakenkreuz-Armbinde wieder überstreift. Erlöst wird hier niemand. Man sieht sich im innersten Höllenkreis von Dantes „Göttlicher Komödie“.

Das sind die Stärken dieser aufwühlenden Produktion, diese intensiven psychologischen Ausdeutungen der Person. Neben der überzeugenden musikalischen Leistung der Düsseldorfer Symphoniker unter Axel Kober und weiteren sängerischen Höhepunkten wie etwa die Elisabeth von Elisabet Strid oder der Landgraf von Thorsten Grümbel und der Biterolf vom Mannheimer Ensemblemitglied Thomas Jesatko.

(Rheinpfalz, 06.05.2013)

 

Tannhäuser vor Gaskammern

Buh-Sturm für eine kühne Wagner-Deutung an der Rheinoper. Der Titelheld trägt die schwere Schuld eines Nazi-Verbrechers

Düsseldorf. Adornos Satz, Gedichte nach Auschwitz zu schreiben, sei barbarisch, hat das Kunstverständnis der Bundesrepublik geprägt wie kein zweiter. Man dachte daran, als Samstag an Düsseldorfs Rheinoper „Tannhäuser“ Premiere feierte. Für Wagners Sängerkrieg öffnete sich schon zur Ouvertüre die Gaskammer. Nackte verendeten im Gift. Vor ihnen wälzte sich ein Held, dem die Geschichte zum Albtraum des Lebens geworden ist: Tannhäuser.
Als dieser Tannhäuser – bei Wagner ein Ritter zwischen zwei Frauen (bittersüße Sünde oder Heil mit höfischen Auflagen) – auf der Bühne eine jüdische Familie auslöscht, ist es um die Ruhe im Parkett geschehen. „Vorhang!“, brüllen Menschen, „Aufhören!“, „Buh!“.
Es ist eine ganz normale Reaktion – wie immer, wenn Kunst einer Erwartungshaltung nicht entspricht. Natürlich ist es auch: eine Zumutung. Einerseits, weil Regisseur Burkhard Kosminski in seinem Operndebut eine Geschichte behauptet, die bei Wagner nicht existiert. Das größere Wagnis ist die Schonungslosigkeit, mit der Kosminski seine Blut- und Schnurboden-Oper am Laufen hält. Hakenkreuze und nackte Tote sind seine Zeugen. Lässt man sich ein auf diese surreale Welt eines auf ewig schuldig Gewordenen, muss man diesem Abend szenische Konsequenz attestieren.
(…)

Fröhliche Verdrängungsgesellschaft

Das verstörende dieses Abends ist sein düsteres Kapital. Man sieht im zweiten Akt die fröhliche Verdrängungsgesellschaft und kommt nicht umhin, zu erinnern, dass selbst die Neu-Bayreuther Wieland und Wolfgang sich politische Diskussionen nach dem zweiten Weltkrieg verbaten. Sie zitierten trotzig Großvater Richard: „Hier gilt’s der Kunst.“
(…)

(Rhein-Neckar-Zeitung, 06.05.2013)

 

Skandal-Oper erregt ganz Düsseldorf
Skandal um „Tannhäuser“: Nazi-Uniformen und Gaskammern auf der Bühne, Nackte geschoren

Düsseldorf. Was für ein bizarres Timing. In München startet der NSU-Prozess und Düsseldorf leistet sich einen Opern-Skandal … mit Nazi-Uniformen, Gaskammern und Nackten auf der Bühne, denen der Schädel kahlgeschoren wird!

Aufruhr im Zuschauerraum bei der Premiere von Richard Wagners „Tannhäuser“ am Samstagabend. „Aufhören! Pfui! So was gibt es nur in Düsseldorf!“ schimpfen zahlreiche Zuschauer. Wütende Buhrufe, „Beleidigung“ und „Alptraum“ war zu hören. Verärgerte Zuschauer flüchteten schon nach einer halben Stunde von ihren Plätzen, knallten beim Rausgehen laut die Türen zu. Selbst Bürgermeisterin Gudrun Hock, ausgemachter „Tannhäuser“-Fan, gab zu: „Ich habe den ersten Akt mit geschlossenen Augen gehört.“
Im Zentrum der Kritik: Regisseur Burkhard C. Kosminski, der offenbar versucht hatte, im Jahr des 200. Wagner-Geburtstages den Antisemitismus des Komponisten und seinen Einfluss auf die Nazi-Ideologie zu thematisieren. Doch das geriet ihm – zumindest nach Auffassung vieler Zuschauer – deutlich zu plakativ. Da flossen auf der Bühne Ströme von Theaterblut, es wurde gar vergewaltigt.

Selbst bei der Premierenfeier wurde Kosminski zur Zielscheibe der Wut – Intendant Christoph Meyer musste die Empörten zur Ordnung rufen. Aber es gab auch andere Stimmen: Stadtsprecherin Natalia Fedosenko und Stadtmuseums-Direktorin Dr. Susanne Anna fanden den umstrittenen Opernabend „einfach toll!“.

(Express Düsseldorf, 06.05.2013)

 

> Kommentare zu „Tannhäuser“ :

"Tannhäuser"-Skandal: Im Land der Täter und Sanitäter
Ein Kommentar von Wolfgang Höbel

Die Deutschen ermordeten sechs Millionen Juden, aber wenn man sie daran erinnert, rufen einige neuerdings den Arzt. Weil Zuschauern übel wurde, setzte die Düsseldorfer Oper eine umstrittene "Tannhäuser"-Inszenierung ab. Ob die wirklich ein Skandal ist? Mag sein. Ihre Absetzung ist sicher einer.

Der Komponist Richard Wagner war ein ekelhafter Antisemit, seine Opern wurden von führenden Köpfen des nationalsozialistischen Politiker-Packs geliebt und zum Inbegriff deutscher Kultur-Wertarbeit verklärt. Deshalb liegt es ziemlich nahe, zwischen Wagners möglicherweise genialem musikalischem Werk und den Verbrechen der Nazis Verbindungen herzustellen.
Viele Filmemacher und Musiktheaterregisseure tun das seit Jahrzehnten. In Hollywood und im deutschen Kino wurden Auftritte nationalsozialistischer Oberschurken und Bilder von den Massendeportationen der Juden mit schwelgerischen Wagner-Klängen unterlegt, Dutzende von Wagner-Regisseuren, viele glühende Fans seiner Musik, haben sich in Inszenierungen mit Wagners Rassenwahn und dem Wagner-Kult, den die Nazis trieben, beschäftigt - manchmal intelligent, oft plakativ und stets ganz zu Recht.

Der Regisseur Burkhard Kosminski, 51 Jahre alt und im Hauptjob Schauspielintendant in Mannheim, hat am vergangenen Samstag in Düsseldorf sein Debüt als Opernregisseur präsentiert. Eine "Tannhäuser"-Inszenierung, in der ziemlich zu Beginn einige Statisten zu sehen waren, die sich in Glaskästen bewegten. In denen stieg weißer Rauch auf, was offensichtlich an die Gaskammern der nationalsozialistischen KZs erinnern sollte. Wenig später sah man den Darsteller des Tannhäuser eine Familie erschießen.

Schon während der Premiere gab es laute Proteste im Zuschauerraum, auf der Premierenfeier wurde Kosminski heftig attackiert. Ob seine Aufführung wirklich skandalös ist, wie manche Kritiker meinten, oder hochinteressant und erschütternd, wie andere schrieben, lässt sich nun nicht mehr überprüfen. Denn wer nicht in der Premierenvorstellung war (auch ich war nicht dort), der wird diesen Skandal-"Tannhäuser" nie zu sehen bekommen. Am Mittwoch hat der Düsseldorfer Opernintendant Christoph Meyer verkündet, dass er alle weiteren Vorstellungen der Kosminski-Inszenierung kippt. Der "Tannhäuser" wird künftig nur noch konzertant gespielt.

Besonders bemerkenswert an dieser Absetzung ist deren Begründung. Ausschlaggebend, so Meyer, waren nicht negative Kritikerstimmen oder die Kampagne der Lokalzeitung "Rheinische Post", die sogar den israelischen Botschafter in Deutschland, Yakov Hadas-Handelsman, zu der ziemlich kühnen, weil sehr allgemeinen Stellungnahme veranlasste: "Jegliche Verwendung von Nazi-Symbolen in einem solchen Rahmen ist fehl am Platz." Entscheidend, so Meyer, sei allein gewesen, dass "einige Szenen, insbesondere die sehr realistisch dargestellte Erschießungsszene, für zahlreiche Besucher sowohl psychisch als auch physisch zu einer offenbar so starken Belastung geführt haben, dass diese Besucher sich im Anschluss in ärztliche Behandlung begeben mussten". Er habe die "Tannhäuser"-Arbeit gekippt, weil "wir eine solch extreme Wirkung unserer künstlerischen Arbeit nicht verantworten können".

Wie immer es um Kosminskis nicht mehr zu beurteilende Regiekunst im Fall "Tannhäuser" bestellt sein mag: Diese Argumentation setzt im Kulturkampf zwischen Regisseuren und denen, die ihre Arbeit ablehnen, neue Maßstäbe. Jahrzehntelang haben deutsche Theaterbesucher nach dem Staatsanwalt oder nach der Politik gerufen, wenn ihnen eine Inszenierung nicht gefiel, wenn sie ihre religiösen oder sittlichen Gefühle verletzte. Es war fast immer vergebens. Selbst als der große Musiktheater-Erneuerer Hans Neuenfels vor über 30 Jahren in Verdis "Aida" das Liebespaar Aida und Radames in einer Gaskammer ihr Leben ausröcheln ließ (was in einer Verdi-Oper keineswegs näher liegt als bei Richard Wagner), blieb, so erzählen uns die Älteren, diese legendäre Frankfurter Inszenierung auf dem Spielplan - trotz aller wütenden Proteste. Der zürnende Kulturbürger von heute aber ruft nicht nach Justiz und Obrigkeit, er ruft nach dem Sanitäter.

Mindestens zehn Premierenbesucher, so wird in Düsseldorf berichtet, hätten sich nach der Premiere in ärztliche Betreuung begeben müssen. Das hat für die Absetzung gereicht. Die Deutschen haben in ihrer jüngeren Geschichte sechs Millionen Juden umgebracht, aber wenn sie im Jahr 2013 auf einer Opernbühne daran erinnert werden, rufen sie nach dem Onkel Doktor.

Selbst wenn einer oder mehrere der Zuschauer wirklich medizinischer Betreuung bedurften - für die Streichung einer Regiearbeit kann das nicht ernsthaft als Begründung dienen. Die "Tannhäuser"-Aufführung, so schrieb der Kritiker Frank Pommer in der sehr bürgerlichen Tageszeitung "Rheinpfalz", "mutet uns drastische Bilder zu. Sie mutet uns zu, über das Werk nachzudenken, sie verstört uns und konfrontiert uns mit der deutschen Geschichte, indem sie Tannhäusers Sünde als deutsche Urschuld schlechthin zeigt."

Pommer schrieb, seiner Meinung nach sei Kosminskis Regiearbeit in entscheidenden Punkten nicht geglückt, doch sei sie selbst im Irrtum von beeindruckender Stringenz und "erschüttere die Zuschauer". Diese Erschütterung wird künftig in Düsseldorf nicht mehr stattfinden, sozusagen auf ärztliche Empfehlung. Wenn dieses Beispiel Schule macht, werden wir auch im Kino, im Theater und im Museum bald keine Bilder von den Verbrechen der Nazis mehr sehen dürfen. "Die Belastung", werden die Zensoren wie der Düsseldorfer Opernchef Meyer sagen, "ist nicht zu verantworten."

(Spiegel online, 10.05.2013)

 

Offener Brief zum "Tannhäuser"-Skandal: Wagner wagen!

Darf man Wagners Werke mit Nazi-Assoziationen inszenieren? Unbedingt, finden die israelischen Künstler Udi Aloni und Itay Tiran. Sie fordern eine Wiederaufnahme der abgesetzten "Tannhäuser"-Produktion an der Oper Düsseldorf. Wir dokumentieren ihren Offenen Brief.

Die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf hat Burkhard C. Kosminskis "Tannhäuser"-Inszenierung nach der Premiere am 4. Mai 2013 abgesetzt - direkt vor der zweiten Aufführung. Denn dem Auftakt der Produktion folgte ein massives Medienecho, in dem die Aufführung als "Nazi-Oper" diffamiert wurde. Wir dagegen glauben, dass dieser Angriff zu einer Zeit kommt, in der das Stück den Nerv in der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft trifft, die es ablehnt, sich mit dem Trauma ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Die Ablehnung der Aufführung kam von zwei scheinbar gegensätzlichen Interessengruppen: von der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf sowie dem israelischen Botschafter Yakov Hadas-Handelsman auf der einen Seite und von den Wagner-"Hooligans" auf der anderen Seite.

Für uns ist es pure Ironie, wenn Israel einerseits jegliche Aufführung von Wagners Werken wegen dessen Nazi-Assoziationen verbietet - und gleichzeitig der israelische Botschafter protestiert, dass ein deutscher Regisseur Wagners mögliche NS-Verstrickungen aufzeigt. "Jegliche Verwendung von Nazi-Symbolen ist fehl am Platz", sagte er der "Rheinischen Post".

Es ist keine Überraschung, dass es Wagner-Anhängern davor graut, wenn jemand diese unausgesprochene Verbindung herstellt, die den Festakt zu Wagners 200. Geburtstag stören könnte. Aber sollte es deshalb in Deutschland verboten werden, Wagners Antisemitismus als zentrales Thema ins Rampenlicht zu rücken?

Wir glauben, dass Wagners Musik etabliert genug ist, um einen Umgang mit zwei gegensätzlichen Perspektiven auf sein Werk zu erlauben. Dies gibt dem Publikum das gute Recht, eine Aufführung auszubuhen - nicht jedoch einem Theater, sie zu zensieren.
Wer hat das Recht, Nazi-Symbole auf der Bühne einzusetzen?

Die genannte Inszenierung wurde mit der Begründung abgesetzt, dass von der Produktion eine gesundheitliche Gefährdung für das Publikum ausgehen könnte - ganz so, als ob Kunst eines Terrorangriffs bezichtigt werden könnte. Wenn heute militante Kunst, so wie sie der Philosoph Alain Badiou definiert, innerhalb eines etablierten Theaters aufkommen kann, sollten wir diese als Wunder wertschätzen und sie nicht in die Komfortzone der etablierten Kunst zurückdrängen.

Die Frage, die sich gegenwärtig in Israel stellt, ist folgende: Wer hat das Recht, Nazi-Symbole auf der Bühne einzusetzen? In zwei aktuellen israelischen Produktionen hat der Schauspieler Itay Tiran, einer der Unterzeichner dieses Briefes, erst im Rahmen einer "Cabaret"-Inszenierung einen Auschwitz-Häftlingsanzug getragen und dann in Sobols Stück "Ghetto" in voller SS-Montur Juden auf der Bühne niedergeschossen. Tatsächlich werden also nicht die Symbole der Nazis zensiert, vielmehr gibt es ein Bedürfnis, diese Symbole so fern wie möglich von Wagner zu halten.

Als Mitglieder der kulturellen Gemeinschaft Israels lehnen wir grundsätzlich die offizielle Position der israelischen Regierung ab; das heißt, wir denken auf der einen Seite, dass Wagner in Israel so gespielt werden sollte, als stünde er in keiner Beziehung zur Nazi-Bewegung, während wir ebenfalls daran glauben, dass ein deutscher Regisseur das Recht hat, Wagners Werk in Verbindung mit nationalsozialistischen Haltungen zu interpretieren.
Deutschland wird weltweit für seine Meinungsfreiheit respektiert. Aber die Zensur dieses Stücks schafft einen gefährlichen Präzedenzfall. Wir haben bereits aus weniger aufgeschlossenen Gesellschaften außerhalb Deutschlands Kommentare vernommen, die nun behaupten können: "Schaut mal, sogar in Deutschland gibt es eine Zensur." Das heißt mit anderen Worten, dass - so wie das deutsche Theater wegen seiner breiten Unterstützung der Künste weltweite Inspiration bietet - nun auch die Absetzung des Stücks ein gefährliches Paradebeispiel für die Zensur von Kunst auf der ganzen Welt liefert.

Wir ersuchen deshalb den Direktor der Deutschen Oper am Rhein, Prof. Christoph Meyer, die Inszenierung wieder aufzunehmen. Nicht nur für die Meinungsfreiheit oder das Recht des Publikums, ein Werk auszubuhen oder zu feiern - sondern auch für das Recht der Kunst, mehr als bloße Unterhaltung liefern zu dürfen.

(Spiegel online, 30.05.2013)

Polarisieren gehört dazu
Skandalös ist das nicht, was Burkhard C. Kosminski mit seinem „Tannhäuser“ auf der Bühne zeigt. Weder verhöhnt er Opfer, noch banalisiert er das Verbrechen der Nazis. Seine Inszenierung von Gaskammern und der mörderischen Schuld, die Tannhäuser auf sich läd, ist ein ernsthafter künstlerischer Ausdruck. Es ist seine Interpretation des von vielen so geliebten Wagner Werks, über die man streiten kann und sollte. Kunst, die polarisiert und aufwühlt, die zu hitzigen Debatten führt, gehört dringend zu unserer Gesellschaft. All das gab es an diesem hochemotionalen Premierenabend. Wer aber schon nach wenigen Minuten unflätig rumbrüllt oder den Regisseur im Foyer persönlich angeht, dem liegt nichts an einer kritischen Auseinandersetzung. Das ist eher Ausdruck eines erschreckenden Wahns. Keiner ist gezwungen, diese Oper zu sehen oder das Regiekonzept zu bejubeln. Aber das Verhalten dieser Wenigen an diesem Abend war in der Tat skandalös.
(Westdeutsche Zeitung, 06.05.2013)

Freiheit oder Feigheit
Stefan M. Dettlinger zum Düsseldorfer Skandal um „Tannhäuser“

Es stimmt schon: Nicht nur auf die Freiheit selbst trifft zu, dass sie für die einen dort ende, wo sie für andere beginne. Selbiges lässt sich auch über die Kunst sagen, deren Freiheit immer und immer wieder gefordert wird, ist sie doch, nicht zuletzt nach Schiller, "eine Tochter der Freiheit" selbst.
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Hat der Düsseldorfer Fall mit der Sicht von Mannheims Schauspielchef Burkhard C. Kosminski auf Wagners "Tannhäuser" nun mit Freiheit zu tun? Hat Kosminski mit seiner Deutung von Tannhäusers Schuld als Kriegsverbrecher, mit der Darstellung der Vergasung von Gefangenen und der Erschießung eines Ehepaares die Freiheit anderer verletzt? Nein, das hat er nicht! Verletzt hat er allenfalls deren Gefühle. Doch täglich werden solche Szenen im Fernsehen gezeigt. Wer sie nicht sehen will oder kann, drückt auf den Knopf. Auch die moralische Anstalt Theater ist keine reine Wohlfühl-Zone - zudem hat sie Türen, die in Düsseldorf vielleicht von zu wenigen genutzt wurden.

Es stimmt zwar: Kosminski ist weit gegangen - sowohl in der Deutung als auch den ästhetischen Mitteln; Nacktheit, Erschießung und der Nationalsozialismus bringen die Menschen immer in Wallung (wobei jüdische Symbolik hier nicht einmal vorkommt - die beklagten Opfer sind hier alle: Kommunisten, Homosexuelle, Sinti, Roma, Juden?.?.?.). Seine geschichtskritische Sicht übertrifft aber nicht einmal einige Bilder aus dem Autodafé von Verdis "Don Carlo" - auch dort werden Systemgegner (in Gottes Namen) dem lodernden Scheiterhaufen übergeben.

Der Skandal ist hier keineswegs die Inszenierung; sie geht an jene Grenzen, die wir alle von der Kunst immer wieder fordern und die Wagner selbst immer wieder überschritten hat. Der Skandal ist, dass die Führung der Düsseldorfer Oper Kosminksi im Stich lässt, obwohl man seine Sicht der Dinge im Vorfeld intensiv und kritisch diskutiert und sich dahinter gestellt hat. Niemand hat die Absetzung gefordert. In vorauseilendem Gehorsam hat Düsseldorfs Intendant Christoph Meyer eigenwillig gehandelt - und aus der "Tochter der Freiheit" eine Gefangene der Feigheit gemacht.

(Kommentar von Stefan M. Dettlinger in Mannheimer Morgen, 10.05.2013)

 

Erste Hilfe
Düsseldorfer Tannhäuser abgesetzt.

Die umstrittene „Tannhäuser“-Inszenierung an der Düsseldorfer Rheinoper wurde abgesetzt. Auf Beschluss des Intendanten Christoph Meyer soll die Produktion nur noch konzertant gezeigt werden. Mannheims Schauspielchef Burkhard C. Kosminski hatte bereits die Ouvertüre mit provozierenden KZ-Szenen illustriert. Nackte Statisten, eingesperrt in Glaswürfel, werden „vergast“, auch der Minnesänger Heinrich von Ofterdingen alias Tannhäuser beteiligt sich als SS-Mörder an Erschießungen. Die Proteste bei der Premiere waren enorm, etliche Zuschauer mussten ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Meyer begründete die ungewöhnliche Maßnahme damit, dass er „eine solch extreme Wirkung unserer künstlerischen Arbeit nicht verantworten könne“. Zuvor hatte der Regisseur die Bitte, Szenen zu ändern, aus künstlerischen Gründen abgelehnt.

(FAZ, 10.05.2013)

Kritik an der Absetzung des „Tannhäusers“
Der Präsident des Deutschen Bühnenvereins, Klaus Zehelein, hält die Absetzung der umstrittenen 'Tannhäuser'-Inszenierung in Düsseldorf für überzogen. 'Man hätte sie nicht absetzen müssen', sagte Zehelein der Deutschen Presse-Agentur. 'Kunst muss einem gewissen gesellschaftlichen Druck Stand halten können, selbst wenn etwas misslungen ist - aber letzteres kann ich nicht beurteilen, weil ich die Produktion nicht gesehen habe.' Ein Wiederaufnahme der Inszenierung hält Zehelein jedoch für unrealistisch. Der Präsident der Akademie der Künste in Berlin, Klaus

Staeck, hat gefordert, die umstrittene Inszenierung von Burkhard C. Kosminski wieder in ihrer ursprünglichen Form zu zeigen - mit Gaskammer- und Erschießungsszenen. Rheinoper-Intendant Christoph Meyer hatte sie nach empörten Reaktionen vieler Zuschauer abgesetzt. Mehrere Zuschauer hatten sich nach der Premiere mit brutalen Nazi-Szenen in ärztliche Behandlung begeben. Die Gesundheit gehe über die künstlerische Freiheit, hatte Meyer seine Entscheidung begründet.

(dpa-Meldung in Süddeutsche Zeitung, 17.05.2013)

 

Der Skandal danach
Nicht die Düsseldorfer Tannhäuser“-Inszenierung ist der Skandal, sondern der Umstand, dass und wie sie jetzt abgesetzt wird

Burkhard C. Kosminskis „Tannhäuser“ ist eine Zumutung. Die erste Opernregie des Mannheimer Schauspielchefs mutet uns drastische Bilder zu, Nacktheit, Gaskammern, Exekutionen, eine Vergewaltigung. Sie mutet uns zu, über das Werk nachzudenken, sie irritiert, verstört uns, konfrontiert uns mit der deutschen Geschichte, indem sie Tannhäusers Sünde als deutsche Ur-Schuld schlechthin zeigt: als den Holocaust.

Das mag mit dem Stück nur bedingt etwas zu tun haben, an entscheidenden Punkten geht dieser Interpretationsgriff auch ins Leere beziehungsweise schießt über das Ziel hinaus. Eines aber tut dieser „Tannhäuser“ aber sicherlich nicht, obwohl ihm auch dies vorgeworfen wurde: Er verhöhnt die Opfer des Nationalsozialismus nicht. Ganz im Gegenteil. Er erschüttert den Zuschauer, indem er das Leid der Opfer und die grausame Vernichtungsmaschinerie der Nazis vor Augen führt. Die Premiere, die ja nun die einzige szenische Aufführung bleiben soll, jedenfalls war ein zutiefst beunruhigender Abend, der lange nachwirkt. Das ist nicht das Schlechteste, was Kunst erreichen kann.

Denn Kunst muss verstören, aufwühlen dürfen. Sie muss eine Zumutung sein dürfen, auch gegen den Widerstand einzelner im Publikum – die allermeisten blieben ja im Opernhaus. Düsseldorfs Intendant Christoph Meyer hat dem auch von der „Bild“-Zeitung angefeuerten Druck nun nachgegeben, obwohl er das Regiekonzept mitgetragen hatte. Das ist der eigentliche Skandal

(Kommentar von Frank Pommer in Die Rheinpfalz, 10.05.2013)

 

Wo endet die Freiheit der Kunst?
Am Beispiel des Düsseldorfer Tannhäuser
Jürgen Schläder / 21. August 2013

In der Operncommunity gilt seit längerem die These, man könne ein Theaterwerk von Richard Wagner, dessen sämtliche Werke im Nationalsozialismus zu faschistischer und anti-jüdischer Propaganda instrumentalisiert wurden und die selber eine Vielzahl an antisemitischen Vorstellungen und Formulierungen enthalten, nicht mehr ohne das Wissen um diese Wirkungsgeschichte auf die Bühne bringen. Man muss zur Wirkungsgeschichte als Regisseur eine Haltung entwickeln. Dass die romantische Oper Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg aus dieser Perspektive ein undankbares Werk ist, sei nur am Rande erwähnt. Der Tannhäuser enthält überhaupt keine antisemitischen Aspekte, die sich in anderen Werken Wagners zu Hauf finden – offen oder subkutan.

Der Regisseur der Rheinopern-Inszenierung (Premiere am 4.5.2013), Burkhard C. Kosminski, hat vielleicht auch deshalb den Griff zu den nationalsozialistischen Anspielungen anders begründet: mit einer Problematisierung des Konfliktpotenzials. In unserer Gegenwart, in unserer aufgeklärten, in vielen Dingen sehr libertinären Gesellschaft ist sündige Liebe kein Grund mehr, einen Menschen aus der Gemeinschaft auszuschließen, bis aufs Blut zu bekämpfen und ihn gar zu verdammen. Dafür braucht es heute stärkere, brutalere Begründungen – eben die Vernichtung von Menschen in der unvorstellbaren Kaltschnäuzigkeit und Grausamkeit nationalsozialistischer Judenmorde. Kosminskis Tannhäuser-Figur verantwortet den auf der Bühne in Ausschnitten gezeigten Genozid.
Die immer wieder gestellte Frage: Darf man das? Darf man ein schriftlich fixiertes Werk auf diese Weise verändern? Klare Antwort: Natürlich darf man das, wenn auf dem Werk-Codex keine Rechte des Autors oder seiner Nachkommen mehr liegen. Dies ist bei Wagners Opern nicht der Fall.

Der Regisseur dieser Inszenierung ist im Übrigen in Düsseldorf kein Unbekannter. Burkhard C. Kosminski war 2001-2006, also in der Intendanz von Anna Badora, Leitender Regisseur am Düsseldorfer Schauspielhaus. Seitdem ist er Schauspieldirektor am Nationaltheater Mannheim und demnächst Leiter des Festivals Theater der Welt. Anna Badora hat die Entscheidung für Kosminski sicherlich mit Bedacht getroffen, denn ihr Leitender Regisseur brachte eine Reihe viel besprochener und Aufsehen erregender Neuinszenierungen, vor allem von Uraufführungen: Moritz Rinkes Café Umberto 2005. Kathrin Rögglas Wir schlafen nicht 2004, die selbsterarbeitete Theaterfassung des Fassbinder Films Die Ehe der Maria Braun 2003; dann Tschechows Platonow 2003 und Arthur Millers Tod eines Handlungsreisenden 2002 – um nur die überregional herausragenden Inszenierungen zu nennen. Man wusste also, was einen in Düsseldorf erwarten konnte, wenn man diesen Regisseur mit der Inszenierung von Wagners Tannhäuser betraut. Außerdem verliefen der Probenprozess und die Haupt- und Generalprobe hausintern öffentlich, so dass bei der Premiere niemand aus der Rheinoper wirklich überrascht wurde von dem, was man auf der Bühne sah.

Überrascht war das Publikum, weil die Bilder von menschlichen Gräueln so sehr schockierten, dass sich ein knappes Dutzend der Zuschauer in ärztliche Betreuung begeben mussten, um aus den Affektationen keine ernstlichen körperlichen oder seelischen Schäden entstehen zu lassen. Darüber überrascht sein kann nur der distanzierte Beobachter dieser Vorfälle, denn die Bilder, die man auf der Bühne sah, kennt jeder von uns zur Genüge: ausgemergelte Menschenkörper in Konzentrationslagern, Berge von Leichen oder Leichenteilen, Haufen von Schädeln – was immer mehr man sich an Gräueln vorstellen mag, ist tausendfach in Bildern um die Welt gegangen und verursacht in aller Regel keinen Herzinfarkt mehr. Das Informationszeitalter zeitigt auch in dieser Hinsicht eine durchgreifende Abstumpfung gegenüber solchen Bilddokumenten. Von der diesbezüglich verheerenden Wirkung des Fernsehens ganz zu schweigen.
Aber diese Bilder in der Theateraufführung als scheinbar realistisch ausgespielt zu sehen, und zu erleben, bezeichnete dann doch wohl an jenem 4. Mai dieses Jahres eine andere, eine besondere Erlebnis-Dimension. Das ist das Spezifikum der Theaterkunst: Bilder zu produzieren, die nicht nur wie Wirklichkeit ausschauen, sondern im Augenblick der Aktion auf der Bühne Wirklichkeit zu sein scheinen. Und an diesem Punkt stellt sich erneut die Frage: Darf die Kunst das? Darf ein Künstler so etwas öffentlich ausstellen? Und eben diese Frage betrifft in erster Linie die Freiheit der Kunst.

In Deutschland ist die Freiheit der Kunst verfassungsrechtlich garantiert. Eine kluge Entscheidung der Verfasser des Grundgesetzes, die nach den politisch-verfassungsrechtlichen Katastrophen der unmittelbar voraus gegangenen Zeit des Dritten Reiches ja genau vermeiden sollte, worum es in den Bildern der Tannhäuser-Inszenierung geht: die staatlich verordnete Vernichtung ganzer Kulturen, in diesem Fall des Judentums, und mit ihnen deren Kunstschöpfungen. Weil der Staat aber diese Kunstfreiheit garantiert, muss er auch ihre Finanzierung sicherstellen, d.h. er muss durch seine Verfassung oder durch andere Instrumente der gesetzlichen Regelung die Kunstproduktion, den sog. Werkbereich, und die Kunstdistribution, den sog. Wirkbereich, frei halten von der Einflussnahme der Finanzierenden dieser Kunst. Also das Verbot, auf Methoden, Inhalte und künstlerische Tendenzen der Kunstproduktion einzuwirken und den Schaffensprozess durch Normierungen einzuengen. Deshalb ist die Kunst und sind vor allem die darstellenden Künste in Deutschland eine Aufgabe der öffentlichen Hand. Die beiden großen Theaterhäuser in Düsseldorf dokumentieren dies in besonders drastischer Weise: Die DOR wird von zwei Städten getragen, das Düsseldorfer Schauspielhaus hat in seiner GmbH zwei öffentlich-rechtliche Gesellschafter zu jeweils 50 Prozent, die Stadt Düsseldorf und das Land NRW. Kunst wird in Deutschland nicht subventioniert, sondern finanziert. Sie ist Staatsaufgabe.

Damit sind aber die Zweifelsfälle nicht ausgeräumt, ja nicht einmal angesprochen. Wenn man der Frage nachgehen will, ob die Freiheit der Kunst irgendwo oder nirgends endet, muss es für die Antwort konkrete Kriterien, und zwar juristisch unterlegte Kriterien geben, um Streitfälle angemessen regeln zu können. Diese Kriterien haben sich in den letzten 50 Jahren in der Rechtsprechung sehr gewandelt. Heute gilt auch vor Gericht ein eher offener Kunstbegriff, der den schöpferischen Prozess und seine Individualität zum Hauptkriterium macht: Über Kunst kann man nicht streiten, solange der Künstler sein Werk als Kunst deklariert.
Im Grunde gibt es nur zwei Tatbestände, die die Freiheit der Kunst limitieren, weil dieses Grundrecht mit anderen Grundrechten kollidiert: Zum einen die durch Kunst entstandene politische oder sonstige Straftat (beispielsweise der unverblümte Aufruf zum gesellschaftlichen Umsturz oder, in Verzerrung des angestrebten theatralen Realismus der Mord auf offener Bühne). In solchen Fällen endet die Freiheit der Kunst, aber auch dieser Verstoß gegen ein konkurrierendes Grundrecht muss juristisch präzis definiert sein. Der andere, häufiger eintretende Fall ist die Verletzung des grundrechtlich garantierten Persönlichkeitsschutzes, also die justiziable Diffamierung einer Person durch ein Kunstwerk. Bei diesen beiden Tatbeständen endet u.U. die Freiheit der Kunst.

Die Entscheidungsweise von Gerichten und die Offenlegung von Kriterien ist seit etwa 40 Jahren im Grundsatz geregelt – durch einen durchgreifenden Musterprozess, der in die Annalen der deutschen Rechtsgeschichte eingegangen ist unter dem Namen der Mephisto-Entscheidung. Es ging um den von Klaus Mann geschriebenen Roman Mephisto, dessen Hauptfigur, der Staatsschauspieler Hendrik Höfgen, unter den Nationalsozialisten eine beispiellose Karriere macht aufgrund seines willigen Mitläufertums. Die Roman-Figur Hendrik Höfgen trägt unverkennbare biografische Züge des großen deutschen Schauspielers, Regisseurs und Intendanten Gustav Gründgens. In der sog. Mephisto-Entscheidung galt es zu überprüfen, ob der Persönlichkeitsschutz von Gustav Gründgens und seiner Familie, insbesondere seines Sohnes durch diesen Roman entscheidend verletzt worden war. Das Hanseatische Oberlandesgericht kam 1966 zu dieser Einschätzung. Druck und Vertrieb des Romans von Klaus Mann wurden verboten. 1968 wurde dieses Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts durch den Bundesgerichtshof bestätigt. Nach neuerlichem Einspruch des Verlegers beschäftigte sich endlich 1971 das Bundesverfassungsgericht mit diesem Fall, also jenes Gericht, das aufgrund des verfassungsrechtlich garantierten Personenschutzes wie der Freiheit der Kunst auch zuständig war und ist. Das Bundesverfassungsgericht traf zwei sehr wichtige Grundsatzentscheidungen, die bis heute Gültigkeit haben in solchen Verfahren. Zum einen stellt es den Fiktionsgrad von Kunst ins Zentrum der Überlegungen. Am konkreten Beispiel: Der Zeichencharakter der Romanfigur, also ihre Allgemeingültigkeit muss stärker hervortreten als die denkbare Verunglimpfung einer Person des öffentlichen Interesses. Mit Zeichencharakter ist das Metaphorische gemeint und somit das Allgemeingültige und nicht das Biografisch-Individuelle. Und zum andern stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass solche Fälle stets im Einzelnen und höchst individualistisch zu prüfen und zu verhandeln seien.
Zusätzlich hatte sich freilich die öffentliche Meinung bei solchen Verfahren in den fünf Jahren der Verhandlung dieses Falls durch drei Instanzen entscheidend verändert. 1971 war klar, dass man mit dem Verbot des Romans zugleich auch eine öffentliche Kritik an Gustav Gründgens‘ ambivalentem Verhalten im Dritten Reich untersagen würde. Eben dies mochte die Hälfte der Richter im zuständigen Senat nicht eingestehen. Eine Entscheidung konnte 1971 nicht getroffen werden, weil der Senat des Verfassungsgerichts trotz einiger Minderheitenvoten eine Pattsituation nicht vermeiden konnte. Noch heute steht der Roman formal auf dem Index. Aber seit 1981 – im Zuge einer neuerlichen Liberalisierung – konnte man ihn auch in Deutschland erwerben, und im selben Jahr wurde er unter der Regie von Istvan Szabo auch verfilmt mit Klaus Maria Brandauer in der Hauptrolle. Wo die Freiheit der Kunst endet, konnte also in dem Musterprozess, auf dessen Entscheidungsmechanismen sich heute noch die Gerichte berufen, nicht entschieden werden.

Nicht alle Fälle liegen so kompliziert wie dieser. Beispielsweise die Tannhäuser-Inszenierung an der Düsseldorfer Oper durch Burkhard Kosminski. Nach der Premiere hat der Rheinopern-Intendant Christof Meyer die szenische Interpretation abgesetzt. Wagners Tannhäuser kann man derzeit nur noch in einer konzertanten Aufführung im Opernhaus Düsseldorf erleben. Einer der Beweggründe für diese Entscheidung mag auch die massive Kritik aus den entsprechenden konservativen Kreisen gewesen sein, die Bilder vom Juden-Töten verunglimpften die Oper des Nazi-Regimes. Man muss schon ziemlich um die Ecke denken, wenn man diesem Argument ernsthaft folgen will. Noch einmal: zu Tausenden sind die dokumentarischen Fotos dieser Verbrechen um die Welt gegangen. Größeren Respekt hatte Intendant Meyer wohl vor der Gefahr, auch in späteren Aufführungen könnte es Menschen geben, die ärztlicher Hilfe bedürftig seien, wenn die emotionale Anspannung körperlich wie seelisch nicht mehr zu bewältigen sei. Freilich weiß nach der öffentlichen Debatte um diese Absetzung jeder Interessierte, was ihn erwartet, und von einem aufgeklärten Demokraten kann man wohl annehmen, er gehe mit diesen Informationen sorgfältig um und vermeide die Aufführung, wenn er sein Herz für zu anfällig hält. Eine prozessuale Verurteilung des Intendanten wegen Körperverletzung stünde gewiss nicht zur Debatte.
Deshalb greift die Absetzung rigoros in die Kunstfreiheit des Regisseurs ein, denn seine Interpretation kann nun nicht mehr öffentlich von einer großen und stetig wachsenden Zahl von Interessenten gesehen und diskutiert werden. Dies berührt in entscheidendem Maße unsere gegenwärtige Entstehung von ästhetischen Urteilen, um die es ja in der Kunstrezeption geht. Wir sind längst, seit Jahrzehnten über den Status hinaus, uns nach kantischer Manier an abstrakten ästhetischen Normen zu orientieren, wenn wir ästhetische Urteile fällen. Das moderne Verfahren der Urteilsfindung basiert vielmehr auf Debatte und Austausch von Argumenten. Und genau dies, Debatte und Austausch von Argumenten, wurde durch die Absetzung der szenischen Interpretation unterbunden. Die Freiheit der Kunst wurde unangemessen limitiert.

 

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