Sibylle Lewitscharoff

Vor dem Gericht

Inszenierung: Burkhard C. Kosminski
Bühne:
Florian Etti
Kostüme: Lydia Kirchleitner
Musik:
Hans Platzgumer
Licht: Nicole Berry
Dramaturgie: Ingoh Brux

Uraufführung am 20. Mai 2012

Nationaltheater Mannheim

Besetzung:
Kellner : Thorsten Danner
Gertrud Schäfer: Anke Schubert
Heinrich Schäfer: Reinhard Mahlberg
Alter Mann mit Hund: Ralf Dittrich
Elisabeth Scheer: Dascha Trautwein
Ingrid von Malden: Elke Twiesselmann
Erwin Benz: Michael Fuchs
Aysel Yilmaz: Ragna Pitoll
Geiger: Sebastian Meyhöfer
Gast: Gunter Möckel/Ralf Mond
Hansi: Sheridan Bomfin Tavares/Dave Brunsch

 

 


Pressestimmen:

Mit viel Sprachwitz und feiner Gesellschaftskritik hat die preisgekrönte Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff ihren Einstand als Bühnenautorin gefeiert. Denn das zeitgenössische Stück "Vor dem Gericht" der 58-jährigen Stuttgarterin kam bei seiner Uraufführung am Mannheimer Nationaltheater beim Publikum gut an. In der humorvollen Inszenierung von Burkhard Kosminski kommen sieben Personen, darunter ein Ehepaar, hintereinander in ein düsteres Wirtshaus. Allmählich stellt sich heraus, dass etwas nicht stimmt. Immer wieder müssen einzelne Gäste einen Fahrstuhl betreten, der sie nach oben oder unten fährt. Die verbliebenen Protagonisten offenbaren in der Folge ihre Lebensgeschichten und seelischen Abgründe - bis auch sie nach Aufruf den Fahrstuhl ins Jenseits betreten. 1998 erhielt Lewitscharoff den Ingeborg-Bachmann-Preis für ihren Roman "Pong". 2011 erschien ihr jüngster Roman "Blumenberg".
(Financial Times Deutschland, 09.07.2012, dpa)

 

Der Tod ist zunächst einmal ein Wiener Gasthaus. Die Toten sind Menschen wie du und ich. Es fällt ihnen nicht leicht, sich auf die neue Situation einzustellen. Begreiflicherweise. Es gibt kein Bier mehr. Die Teller sind leer. Aber die Toten gebe sich Mühe. Sie unterhalten sich über das Wetter und über Hunde, über das Theater („Theater ist die Hölle“) und über Filme (wie im Leben fallen einem natürlich nie die Namen der Regisseure ein).
Es dämmert den Toten, dass nichts mehr in Ordnung ist, aber so lange es geht, halten sie an Konventionen und Gewohnheiten fest. „Man muss mit dem auskommen, was es eben gibt.“ Die Autorin und der Regisseur verargen ihnen das nicht. Im Gegenteil. „Vor dem Gericht“ ist keine (fast keine) Abrechnung, es ist eher ein zärtlicher Blick auf unsere Schwächen und auf die, nun ja, enorme Anpassungsfähigkeit an neue Gegebenheiten. Der Titel ist dabei vor allem zeitlich zu verstehen: Alles spricht dafür – vor allem der Wiener Ober –, dass es nachher vom Aufzug aus in den Gerichtssaal gehen wird. Im Gerichtssaal wird Schluss sein mit der Konversation. Der Mensch, auch davon erzählt dieser Abend, ist ein derartiger Schwächling, dass er anders als noch weiland bei Sartre über die Hölle in sich selbst erfolgreich hinwegplaudert. Nur ein Richter kommt seiner fabelhaften Fähigkeit zur Verdrängung bei.
„Vor dem Gericht“ ist Sibylle Lewitscharoffs erstes Theaterstück, eine mit dem Mannheimer Nationaltheater und seinem hier auch inszenierenden Schauspieldirektor Burkhard C. Kosminski verabredete Arbeit. Mit dem wattigen Zwischenreich der Verstorbenen, das die Schriftstellerin am Ende ihres 2011 erschienenen Romans „Blumenberg“ entwarf, hat das wenig zu tun (es zeigt aber, dass sie das Thema interessiert). Hier ist alles weit übersichtlicher und eine Art Fingerübung. Und die Suche auch nach einem Alternativangebot zum Gegenwartstheater, gegen das Lewitscharoff in ihrer Frankfurter Poetikvorlesung kräftig gewettert hat. Das Ergebnis ist ein bürgerliches Konversationsstück, wirkungsvoll, wenngleich etwas bewegungslos. Die Toten sind nicht klüger als andere Leute und wenn doch, dann weil Sibylle Lewitscharoff ihnen ihre Wortgewandtheit ausleiht. Sie plappern, sie witzeln, und manchmal belehren sie einander. Das gelegentlich etwas Schlaumeierische des Obers aber überspielt Lewitscharoff mit dem Dialekt, das ihm der Österreicher Klaus Zeyringer in den Text schrieb. Die Schwäbin bedankt sich artig bei ihm.
Und die Mannheimer dürfen sich bei Thorsten Danner bedanken, der lang genug in Wien gelebt hat, um die Rolle zumindest für hiesige Besucher mit dem erforderlichen Schmäh zu füllen. Er führt auch einen sehr komischen Nahkampf mit einem unsichtbaren Toten. Regisseur Kosminski wiederum folgt seiner Autorin weitgehend aufs Wort. Aus Lewitscharoffs Paternoster ist ein herkömmlicher Aufzug geworden (dass es nach oben oder unten geht, ist eine etwas naseweise Vorwegnahme des Urteils, die der Text nicht nötig hätte). Florian Etti hat eine steile, biedere Gaststube aufgebaut. Ein Sitzgeiger spielt Melancholisches (auch hat er ein großes Bier vor sich, Frechheit). Die Toten, die durch eine Drehtür zum Teil geradezu hereingeflogen kommen, sind an sich brave Leute: Ein Kind darunter, ein paar Alte, ein Motorradfahrer aus Pirmasens, eine junge Selbstmörderin, ein Mörder und sein Oper – Anke Schubert und Reinhard Mahlberg als so verbittertes wie vertrautes Ehepaar, die plastischsten Figuren der Inszenierung.
Anderthalb Stunden warten wir mit den Toten darauf, dass ihre Nummer aufgerufen wird. Die Toten fühlen sich unwohl. Aber nur ein einziges Mal zeigt sich ganz blank die grauenvolle Seite ihrer Lage. Als die Selbstmörderin (Dascha Trautwein) nicht in den Aufzug will, stopft der Ober sie hinein. Jetzt genieren sich die Toten. Hätten sie nicht etwas unternehmen können? Müssen? Man wird dieses Stück sicher noch in herber zupackenden Lesarten zu Gesicht bekommen, aber diesen Moment der kleinen Verlegenheit könnte man dann leicht verpassen. Das wäre schade.
(Frankfurter Rundschau, 22.05.2012)

 

Burkhard C. Kosminski hält sich bei seiner Inszenierung streng an die Vorlage des Stückauftrags und baut in anderthalb Stunden Theaterzeit ein solides und sauber zusammengesetztes Tableauspiel auf der vorderen Bühne. Mit einem filmischen Glänzen in den Augen, das den naturalistischen Erzählungsansatz meistens in die passende Perspektive rücken kann und einem klaren Blick auf die tragisch-komischen Momente.
(Nachtkritik, 20.05.2012)

 

Der Mannheimer Schauspieldirektor Burkhard C. Kosminski legt das Hauptgewicht seiner über die ganze Breite der Vorderbühne gezogenen Inszenierung auf präzise Menschendarstellung. Eine kluge Entscheidung.
(Rhein-Neckar-Zeitung, 22.05.2012)